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verwundet (German Edition)

verwundet (German Edition)

Titel: verwundet (German Edition)
Autoren: Constanze Kühn
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verständlich. Für dich beginnt jetzt ein neuer Lebensabschnitt. Alles wird neu, alles ganz anders sein. Hast du dir schon Gedanken gemacht, ob und was du nach dem Abitur studieren möchtest?“
    „Ich möchte Kunst studieren.“
    „Das hört sich doch gut an.“
    Beide schwiegen.
    „Werde ich Sie wieder sehen?“
    „Nein, Lisa. Unsere Beziehung endet, sobald du die Klinik verlassen hast. Dann darf zum Schutz des Patienten zwei Jahre lang keine private Begegnung stattfinden, und danach hat der Patient meistens kein Bedürfnis mehr nach Kontakt.“
    Lisas Augen wurden feucht. „Ich werde immer das Bedürfnis haben, Sie zu sehen.“
    „Das denkt man beim Abschied immer, aber das wird sich verlieren. Du wirst neue Menschen kennenlernen, dich verlieben, viele neue Erfahrungen machen, und irgendwann wirst du hoffentlich in Dankbarkeit und ohne Trauer an mich denken. Glaub mir.“
    Lisa nickte. Es gab nichts weiter dazu zu sagen.
    „Hast du dich von Frau Kaufmann verabschiedet?“
    „Ich will ihr etwas schicken.“ Lisa rollte die Leinwand auseinander, die sie neben ihrem Sessel liegen hatte, und zeigte sie der Ärztin. „Ich habe es von einem Foto abgemalt, das einmal ein Kellner von mir, meiner Mutter und Lydia gemacht hat.“
    Ein Lächeln glitt über das Gesicht der Psychiaterin. „Darüber wird sie sich sehr freuen.“ Sie stand nun auf. Lisa schluckte, nickte, erhob sich dann und wollte Frau Dr. Dunkelmann die Hand reichen. Doch die Ärztin trat auf sie zu, und plötzlich fühlte Lisa ihre Arme um sich. Als sie sich wieder voneinander gelöst hatten, ging Lisa zu ihrem Sessel und holte eine kleine Tasche hervor, die sie dort unauffällig deponiert hatte. Sie hatte noch ein Abschiedsgeschenkt. Harald hatte ihr eine Baumscheibe besorgt, in die sie ein Gedicht eingeritzt und die Buchstaben braun gefärbt hatte. Außerdem hatte sie ein Portrait der Psychiaterin gezeichnet. Harald hatte es für sie rahmen lassen und ihr auch Geschenkpapier besorgt, in das sie die beiden Sachen einpacken konnte. Sie holte sie nun aus ihrer Tasche, überreichte sie der Ärztin, die sie überrascht entgegennahm und ging schnell aus dem Zimmer. Frau Dr. Dunkelmann hielt sie nicht zurück. Sie ließ sich langsam wieder im Sessel nieder, saß noch ein paar Minuten gedankenvoll da und packte dann die Päckchen aus. Beim Anblick ihres Portraits huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Als sie aber das Gedicht gelesen hatte, leuchteten ihre Augen auf.
    Stufen
    Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
    Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe.
    Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
    Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
    Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
    Bereit zum Abschied sein und Neubeginne
    Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
    In andre, neue Bindungen zu geben.
    Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
    Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
    Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
    An keinem wie an einer Heimat hängen,
    Der Weltgeist will nicht fesseln und nicht engen.
    Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
    Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
    Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
    Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
    Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
    Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
    Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
    Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
    Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
    Hermann Hesse
    *

Epilog
    H arald stieg aus der Dusche, trocknete sich ab und schlüpfte in den Bademantel, den Kai ihm hingelegt hatte. Er war bei ihm übers Wochenende zu Besuch. Es war schon halb zwölf. Gestern Abend hatten sie die Studentenkneipen Marburgs abgeklappert, und es war spät geworden. Kai hatte ihn fast die ganze Nacht darüber ausgequetscht, wie er sein Buch über Greifvögel gestalten wollte. Schließlich hatte Kai ihn noch einmal gefragt, ob sie nicht doch einmal zusammen eine Reise mit Rucksack und Trekkingausrüstung machen könnten. Harald hatte ihm nicht verraten, dass er schon so seine Pläne hatte, was das anbelangte. Nun ging er in die Küche und half Kai, der gerade Orangen auspresste. Als die Wohnungsklingel ertönte, fragte Harald. „Erwartest du noch Besuch?“
    „Bin gleich wieder da.“
    Harald zuckte mit den Schultern und schüttete den Orangensaft in die Gläser, die schon auf dem Tisch standen. Kai hatte doch gesagt, dass Sabrina übers Wochenende ebenfalls verreist war. Er ließ fast die Glaskanne fallen,
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