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verwundet (German Edition)

verwundet (German Edition)

Titel: verwundet (German Edition)
Autoren: Constanze Kühn
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damals bei ihren ersten Begegnungen saß sie Lydia verlegen gegenüber, knetete an einem Zipfel des weißen Tischtuches herum, das mit silbernen Spangen am Tisch befestigt war. Die gelbweiß gestreiften Sonnenschirme schützten ihren Tisch nicht. Lisa war das sehr angenehm, da der Wind bisweilen noch recht kühl war. Er raschelte in den Kastanienbäumen, ließ die bunten Wimpel flattern und spielte in ihren Haaren. Als der ältere Kellner kam und ihre Bestellung aufnahm, blieb sein Blick länger als nötig auf Lydia ruhen. Harald fiel ihr ein. Die Verwicklungen zwischen ihnen hatten sie alle drei beinahe in den Abgrund gestürzt. Nachdem sie beide bestellt hatten, sah Lydia sie zärtlich an und sagte: „Du hast mir sehr gefehlt!“ Lisa gab keine Antwort. Auch sie hatte Lydia vermisst und dennoch den Kontakt gescheut. Zu vieles war passiert, und sie hatte immer Angst gehabt, auf denselben gefährlichen Weg zu geraten, den sie einst gegangen war – damals.
    *

1988
    L isa stand am Schaufenster der Buchhandlung und starrte hinaus in den Regen. Es war einer dieser trüben Tage, die sie so sehr hasste. Wie ein langes, graues, scheinbar endloses Band zogen sie vorüber. Das neue Jahr hatte gerade erst begonnen, und der weihnachtliche Geschenkekaufrausch und die Euphorie von Silvester hatten einer übersättigten Langeweile Platz gemacht. Im Laden war kein einziger Kunde. An einem Tag wie diesem hatten die Leute keinen Sinn für Einkäufe, die nicht unbedingt nötig waren. Sie kämpften mit der Trostlosigkeit, die dieses Wetter vermittelte. Der Himmel war düster, die nackten Bäume streckten ihm ihre kahlen, feucht glänzenden Äste entgegen, als wollten sie ihn anflehen, sich zu erbarmen, die Wolkenwand aufzureißen und endlich ein paar Sonnenstrahlen hindurchzulassen. Die Menschen eilten mit mürrischen Gesichtern an der Buchhandlung vorbei, manche frierend mit hochgeschlagenem Mantelkragen, in einer Hand die Tasche oder den Aktenkoffer, in der anderen den Regenschirm, bemüht, ihn nicht der reißenden Macht des Windes zu überlassen. Lisa dachte an ihre Mutter, die seit einigen Monaten unter der Erde lag und sich nicht mehr mit der Sinnlosigkeit des Lebens herumplagen musste. In Gedanken sah sie den Friedhof mit seinen vielen Tannen vor sich. Bei der Beerdigung an einem sonnigen, klaren Herbsttag hatte seine Stille Harmonie ausgestrahlt, dieselbe Harmonie, die zum Schluss auf dem Gesicht ihrer Mutter gelegen hatte.
    „Lisa?“
    Die leichte Berührung einer Hand auf ihrer Schulter riss sie aus ihren Gedanken.
    „Lisa, ist irgendetwas nicht in Ordnung?“
    Sie wandte sich um, und da war auch schon wieder der vertraute Schmerz, als sie in Lydias schöne Augen sah. Sie zuckte jedoch mit den Schultern. „Es ist alles okay.“
    „Wirklich?“
    „Ja. Mir geht nur das Wetter etwas auf die Nerven.“ Zum Glück wurde Lydia von Frau Kraus ans Telefon gerufen. Sie warf Lisa noch einen forschenden Blick zu, bevor sie ging. Vier Monate wohnte Lisa nun schon bei ihr. Sie konnte sich über nichts beklagen. Ihre Wohnung war behaglich. Außerdem drängte Lydia sie nie, sich endlich zu entscheiden, wie sie ihr Leben weiter gestalten wolle. Gut ein Viertel der vereinbarten Frist war schon verstrichen, und bisher hatte sie sich zu nichts entschließen können. Sie hatte einfach keine Idee, was sie beruflich machen könnte, und wenn sie ehrlich war, auch kein Verlangen, mit achtzehn noch einmal die Schulbank zu drücken. Andererseits konnte sie natürlich nicht ewig bei Lydia wohnen. Sie seufzte, als sie sie beobachtete. Sie konnte verstehen, dass ihre Mutter sich zu ihr hingezogen gefühlt hatte. Was aber hatte Lydia an ihrer Mutter gefunden? Die beiden Frauen waren nicht nur äußerlich verschieden gewesen. Lydia hatte bis jetzt immer gehalten, was sie versprochen hatte, ihre Mutter hingegen nicht, und mit ihrem Freitod hatte sie sie nun endgültig verlassen. Lisa wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Lydia zu, die inzwischen das Telefonat beendet hatte und mit Susanne, der Auszubildenden, sprach. Sie lächelte, die Fältchen um ihre Augen vertieften sich. Lisa kannte es schon, dieses sich leise aus dem Innern anschleichende Gefühl, das sich so schwer unterdrücken ließ und ebenso schwer zu durchschauen war. Seit Wochen wurde sie davon gequält. Jetzt gesellte sich Frau Kraus, die Angestellte, zu Lydia und Susanne. Sie machte anscheinend einen Scherz, denn Lydia lachte. Ihre Stimme war warm und herzlich. Lisa lief schnell in das
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