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Versuch über die Müdigkeit

Versuch über die Müdigkeit

Titel: Versuch über die Müdigkeit
Autoren: Peter Handke
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ein Teufel!« Wundersam dann nur, daß mit der Zeit jene Todmüdigkeit doch von einem wich und Platz machte der Zimmerleute-Müdigkeit? Nein, Platz machte einer Sportlichkeit, einem Akkord-Ehrgeiz, begleitet von einer Art Galgenhumor.) – Eine wieder andere Müdigkeitserfahrung war dann die mit der Schichtarbeitwährend der Studierzeit, zum Geldverdienen. Man arbeitete da von frühmorgens – um vier stand ich auf für die erste Straßenbahn, ungewaschen, urinierte in der Kammer in ein leeres Marmeladenglas, um die Hausleute nicht zu stören – bis in den frühen Nachmittag oben unter Dach bei künstlichem Licht in der Versandabteilung eines Warenhauses, die Wochen vor Weihnachten und Ostern. Ich riß alte Kartons auseinander und schnitt aus ihnen mit einer mächtigen Messerguillotine große Rechtecke heraus, als Einlagen und Stützen für die neuen Kartons, nebenan verpackt im Fließbandraum (eine Tätigkeit, die mir auf die Dauer, wie früher zu Hause das Holzhacken und -sägen, sogar guttat, indem sie die Gedanken dabei freiließ, durch ihren Rhythmus aber nicht zu sehr). Jene neue Müdigkeit kam nun, sowie wir nach der Schicht hinaus auf die Straßen traten und jeder dann seiner Wege ging. Jäh bekam ich da, allein in meiner Müdigkeit, blinzelnd, bestaubte Brille, verschmutzter offener Hemdkragen, andere Augen für das vertraute Straßenbild. Ich sah mich nicht mehr wie zuvor unterwegs zusammen mit denen,die da unterwegs waren, in die Geschäfte, zum Bahnhof, zu den Kinos, in die Universität. Obwohl ich in einer wachen Müdigkeit dahinging, ohne Schläfrigkeit, ohne Eingeschlossenheit in mich selbst, fand ich mich ausgesperrt von der Gesellschaft, und das war ein unheimlicher Moment; als einziger bewegte ich mich in die Gegenrichtung zu all den andern, hinein in die Verlorenheit. In den Nachmittagshörsälen, die ich danach betrat wie verbotene Räume, konnte ich den Leierstimmen noch weniger zuhören als sonst; was da gesagt wurde, war ja auch nicht für mich bestimmt, der ich nicht einmal so etwas wie ein Gasthörer war. Ich sehnte mich dann Tag für Tag mehr hinein in die müden Grüppchen der Schichtarbeiter oben im Dachboden, und jetzt, im Nachspüren dieses Bildes, erkenne ich, daß ich schon seinerzeit, sehr früh, als Neunzehn-, Zwanzigjähriger, lange, bevor ich mich ernsthaft an mein Schreiben machte, aufhörte, mich unter den Studenten als ein Student zu fühlen, und das war kein angenehmes, eher ein banges Gefühl.
    Fällt dir eigentlich auf, daß du Bilder der Müdigkeit, in leicht romantischer Manier, nur von deinen Handwerkern und Keuschlern gibst, nie aber von Bürgern, weder großen noch kleinen?
    Ich habe an den Bürgern eben nie jene bildhaften Müdigkeiten erlebt.
    Kannst du sie dir nicht wenigstens vorstellen?
    Nein. Mir scheint, die Müdigkeit gehört sich für sie nicht; sie erachten sie als eine Art schlechten Benehmens, wie das Barfußgehen. Und sie sind zudem außerstande, ein Bild der Müdigkeit abzugeben; denn ihre Tätigkeiten, die sind nicht so. Höchstens können sie am Ende dann eine Sterbensmüdigkeit zeigen, wie hoffentlich wir alle. Und ebensowenig gelingt mir eine Vorstellung von der Müdigkeit eines Reichen, oder Mächtigen, ausgenommen vielleicht der abgedankten, wie der Könige Ödipus und Lear. Nicht einmal müde Werktätige sehe ich bei Feierabend aus den heutigen vollautomatisierten Betrieben kommen,sondern herrscherlich aufgereckte Leute mit Siegermienen und riesigen Baby-Patschhänden, die am nächsten Spielautomaten um die Ecke ihre lässig-munteren Griffe gleich fortsetzen werden. (Ich weiß, was du jetzt einwendest: »Auch du solltest, bevor du dergleichen sagst, erst richtig müde werden, um das Maß zu bewahren.« Aber: ich muß manchmal ungerecht werden, habe auch Lust dazu. Und außerdem bin ich, inzwischen im Nachgehen der Bilder, meinem Vorwurf angemessen, ganz schön müde.) – Eine der Schichtarbeiter-Müdigkeit vergleichbare Müdigkeit lernte ich dann kennen, als ich endlich – es war meine einzige Möglichkeit – »schreibenging«, täglich, monatelang. Wieder, wenn ich nachher in die Stadtstraßen kam, sah ich mich als nicht mehr zugehörig zu der großen Zahl da. Doch das begleitende Gefühl war in diesem Fall ein ganz anderes: kein Teilnehmer an dem üblichen Alltag zu sein, machte mir nichts mehr aus; es gab mir im Gegenteil, in meiner Schaffensmüdigkeit, nah an der Erschöpfung, sogar ein rundum wohliges Gefühl: Nicht die Gesellschaft war
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