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Versuch über die Müdigkeit

Versuch über die Müdigkeit

Titel: Versuch über die Müdigkeit
Autoren: Peter Handke
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Werk-Müdigkeit. Aber: Ein Übeltäter, ungeschoren davongekommen, nickt zwar oft ein, wo er sitzt oder steht, wie so mancher unstet Flüchtige, schläft dann auch viel, tief und geräuschvoll – nur kennt er keine Müdigkeit, geschweige denn jene, die verbindet; bis zu seinem letzten Röchler wird er durch nichts mehr auf der Welt müde zu kriegen sein, es sei denn durch seine endliche, insgeheim vielleicht sogar von ihm selber herbeigesehnte Bestrafung. Und mein ganzes Land ist durchsetzt von derartigen Unermüdlichen, Putzmunteren, bis hin zu den sogenannten Führungskräften; statt je auch nur für einen Augenblick den Zug der Müdigkeit zu bilden, setzt dreist sich in Szene ein wimmelnder Haufen fortgesetzter Gewalttäter und Handlanger, ganz andern als den oben beschriebenen, von alt, doch nicht müde gewordenen Massenmord-Buben und -Dirndeln, der landesweit eine Nachkommenschaft von gleichermaßen ewig aufgeweckten Kerlchen abgesondert hat, welche dabei sind, auch schon die Enkel zu Spähtrupps zu drillen, so daß in dieser gemeinen Mehrheit für all die Minderheiten nie ein Platz sein wird zu der so nötigen Sammlung in einem Volk der Müdigkeit; in diesem Staat wird ein jeder mit seiner Müdigkeit bis ans Ende der Geschichte dieses Staats mit sich allein bleiben. Das Weltgericht, an das ich einmal, was unser Volk betrifft, tatsächlich einen Moment lang glaubte – ich brauche nicht zu sagen, wann das war –, gibt es dem Anschein nach doch nicht; oder anders: die Erkenntnisse solch eines Weltgerichts traten innerhalb der österreichischen Grenzen nicht in Kraft und werden, so mein Denkennach der kurzen Hoffnung, da auch niemals in Kraft treten. Das Weltgericht gibt es nicht. Unser Volk, mußte ich weiter denken, ist das erste unabänderlich verkommene, das erste unverbesserliche, das erste für alle Zukunft zur Sühne unfähige, umkehrunfähige Volk der Geschichte.
    Ist das jetzt nicht eindeutig bloß eine Meinung?
    Es ist keine Meinung, sondern ein Bild: denn was ich dachte, sah ich zugleich. Meinung, und damit unrichtig, ist daran vielleicht das Wort »Volk«; denn in dem Bild erschien mir eben kein »Volk«, sondern der verstockte, zur Uneinsichtigkeit seiner entmenschten Taten und zum endlosen Kreisgang verurteilte »Haufen der Unmüden«. Aber selbstverständlich widersprechen dem jetzt sofort andere Bilder und verlangen wieder Gerechtigkeit; bloß gehen sie mir nicht so tief, mildern nur. – Die Vorfahren, soweit sie überhaupt zurückzuverfolgen sind, waren Knechte, Keuschler (Kleinstbauern ohne Ländereien) und, wenn sie eine Ausbildung hatten, immer Zimmerleute. DieZimmerleute in der Gegend waren es auch, die ich wiederholt zusammen als jenes Volk der Müdigkeit sah. Es war damals die Zeit des ersten Bauens nach dem Krieg, und ich als das älteste der Kinder wurde oft von den Frauen des Hauses, der Mutter, der Großmutter, der Schwägerin, mit dem warmen Mittagessen in den Kannen zu den verschiedenen Neubauten im Umkreis geschickt; alle Männer des Hauses, die nicht im Krieg umgekommen waren, auch noch eine Zeitlang der sechzigjährige Großvater, arbeiteten dort mit anderen Zimmerleuten (»Zimmerern«) an den Dachstühlen. In meinem Bild sitzen sie während der Mahlzeit neben dem Rohbau – wieder jenes verschiedentliche Sitzen – auf den zum Teil schon behauenen Balken oder den noch zu bearbeitenden geschälten Stämmen. Sie haben die Hüte abgenommen, und die Stirnen unter den angeklebten Haaren erscheinen milchweiß verglichen mit den dunklen Gesichtern. Alle wirken sie sehnig, schmächtig, dabei feingliedrig und zart; ich kann mich an keinen schmerbäuchigen Zimmermann erinnern. Sie essen gemächlich und schweigsam, selbst der deutsche Stiefvater, der »Hilfszimmermann«, der sich in der Land- und Dorffremde sonst nur durch seine weltstädtische Großmäuligkeit behaupten konnte (Friede sei ihm). Danach bleiben sie noch eine Weile sitzen, leicht müde einander zugekehrt, und unterhalten sich, ohne Witze, ohne Geschimpfe, ohne je die Stimmen zu heben, über ihre Familien, fast ausschließlich diese, oder, wie friedlich, das Wetter – nie über ein Drittes –, eine Unterhaltung, die dann übergeht in die Arbeitseinteilung für den Nachmittag. Obwohl es unter ihnen einen Vorarbeiter gibt, ist mein Eindruck, daß niemand das Sagen, das erste Wort hat; zu ihrer Müdigkeit gehört, daß bei ihnen gleichsam niemand und nichts »herrscht« oder auch nur »vorherrschend« ist. Dabei sind sie
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