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Versuch über die Müdigkeit

Versuch über die Müdigkeit

Titel: Versuch über die Müdigkeit
Autoren: Peter Handke
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erstarrt bis ins Innerste fühlte zu einer Müdigkeitssäule; und wenn doch einmal der Schritt ins Bett geschafft wurde, dann kam es, nach einem schnellen, ohnmachtsähnlichen Wegschlafen –keine Empfindung von Schlaf –, beim ersten Umdrehen zum Aufwachen hinein in die Schlaflosigkeit, meist ganze Nächte lang, denn die Müdigkeit im Zimmer allein pflegte immer am späten Nachmittag oder am frühen Abend hereinzubrechen, mit der Dämmerung. Von der Schlaflosigkeit haben andere schon genug erzählt: wie sie am Ende dem Schlaflosen sogar das Weltbild bestimmt, so daß er das Dasein, beim besten Willen, nur noch als Unglück, jedes Handeln als sinnlos, jede Liebe als lächerlich sehen kann. Wie der Schlaflose daliegt bis hinein ins Fahllicht des Morgengrauens, das ihm die Verdammnis bedeutet, über ihn allein da in seiner Schlaflosigkeitshölle hinaus des ganzen fehlgeratenen, auf den falschen Planeten verschlagenen Menschenwesens … Auch ich war in der Welt der Schlaflosen (und bin es, immer wieder, noch jetzt). Die ersten Vögel noch in der Finsternis, im Vorfrühling: wie österlich sonst oft – wie hohnvoll aber nun hereinschrillend zum Zellenbett, »wieder-eine-Nacht-ohne-Schlaf«. Das Schlagen der Kirchturmuhren jede Viertelstunde, gut vernehmbar auch die entferntesten, als Ankünder wieder eines üblen Tages. Das Fauchen und Kreischen zweier übereinander herfallender Kater in der Reglosigkeit als das Laut- und Deutlichwerden des Bestialischen im Zentrum unserer Welt. Die angeblichen Lustseufzer oder -schreie einer Frau, in ebenso stehender Luft unvermittelt einsetzend, wie wenn, genau über dem Schädel des Schlaflosen, auf Knopfdruck eine in Serie erzeugte Maschine anspränge, als das plötzliche Fallenlassen unser aller Zuneigungsmasken und das Hervorkehren panischer Selbstsucht (da liebt kein Paar, sondern wieder einmal ein jeder lauthals allein sich) und Gemeinheit. Episodische Stimmungen der Schlaflosigkeit – den beständig Schlaflosen freilich, so verstehe ich jedenfalls deren Erzählungen, können sie endgültig erscheinen, sich fügen zu Gesetzlichkeiten.
    Aber du, der doch nicht chronisch Schlaflose: Bist du nun darauf aus, vom Weltbild der Schlaflosigkeit zu erzählen oder dem der Müdigkeit?
    Auf dem natürlichen Weg über jenes der Schlaflosigkeit von dem der Müdigkeit, oder, richtiger, in der Mehrzahl: Ich will erzählen von den unterschiedlichen Weltbildern der verschiedenen Müdigkeiten. – Wie zum Fürchten war etwa seinerzeit die Art der Müdigkeit, die sich zusammen mit einer Frau ergeben konnte. Nein, diese Müdigkeit ergab sich nicht, sie ereignete sich, als ein physikalischer Vorgang; als Spaltung. Und sie traf auch nie mich allein, sondern jedesmal zugleich die Frau, so als käme sie, wie ein Wetterumschlag, von außen, aus der Atmosphäre, vom Raum. Da lagen, standen oder saßen wir, gerade noch selbstverständlich zu zweit, und von einem Moment zum andern unwiderruflich getrennt. Ein solcher Moment war immer einer des Erschreckens, manchmal sogar des Entsetzens, wie bei einem Sturz: »Halt! Nein! Nicht!« Aber nichts half; die beiden fielen schon, unaufhaltsam, weg voneinander, ein jeder in seine höchsteigene Müdigkeit, nicht unsere, sondern meine hier und deine dort. Mag sein, daß die Müdigkeit in diesem Fall nur ein anderer Name für Gefühllosigkeit oder Fremdheit war – doch für den Druck, der auf dem Umkreis lastete, war sie das der Sache gemäße Wort. Auch wenn der Ort des Geschehens zum Beispiel ein großes klimatisiertes Kino war: Es wurde heiß und eng. Die Sesselreihen krümmten sich. Die Farben auf der Leinwand wurden schwefelig und bleichten dann aus. Wenn wir einander zufällig berührten, zuckten eines jeden Hände weg von einem widrigen Stromschlag. »Am späten Nachmittag des … brach über das Apollo-Kino von … aus heiterem Himmel eine katastrophale Müdigkeit herein. Zum Opfer fiel ihr ein junges Paar, das, eben noch Schulter an Schulter, von der Müdigkeitsdruckwelle auseinanderkatapultiert wurde und am Ende des Films, der im übrigen Von der Liebe hieß, ohne noch einen Blick oder ein Wort für den andern, für immer getrennte Wege ging.« Ja, solch entzweiende Müdigkeiten schlugen einen jeweils mit Blickunfähigkeit und Stummheit; nicht und nicht hätte ich zu ihr sagen können: »Ich bin deiner müde«, nicht einmal ein einfaches »Müde!« (was, als gemeinsamer Aufschrei, uns vielleicht aus den Einzelhöllen befreit hätte): Solche Müdigkeiten
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