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Versuch über die Müdigkeit

Versuch über die Müdigkeit

Titel: Versuch über die Müdigkeit
Autoren: Peter Handke
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unzugänglich für mich, sondern ich war es für sie, für jeden. Was gingen mich eure Lustbarkeiten, Feste, Umarmungen an – ich hatte ja die Bäume da, das Gras, die Kinoleinwand, wo Robert Mitchum nur für mich seine unergründliche Miene spielen ließ, die Jukebox, wo Bob Dylan allein für mich sein »Sad-Eyed Lady of the Lowlands« sang, oder Ray Davies sein und mein »I’m Not Like Everybody Else«.
    Waren solche Müdigkeiten aber nicht in Gefahr, umzuspringen in Hochmut?
    Ja. Ich ertappte mich dann auch immer bei einem kalten, leuteverachtenden Hochmut oder, noch ärger, bei einem herablassenden Mitleid für alle die ordentlichen Berufe, die doch nie im Leben zu einer so königlichen Müdigkeit führen konnten wie der meinen. In diesen Stunden nach dem Schreiben war ich ein Unberührbarer – unberührbar in meinem Sinn, sozusagen thronend, mochte es auch irgendwo im letzten Winkel sein. »Rühr mich nicht an!« Und ließ der Müdstolze sich doch einmal anrühren, so war das wie nicht gewesen. – Eine Müdigkeit als ein Zugänglichwerden, ja als die Erfüllung des Berührtwerdens und selber Berührenkönnens, erlebte ich erst viel später. Das geschah so selten, wie im Leben nur die großen Ereignisse, und ist auch schon lange nicht mehr eingetreten, so als sei es allein in einer bestimmten Epoche des menschlichen Daseins möglich und wiederhole sich danach nur noch in Ausnahmezuständen, einem Krieg, einer Naturkatastrophe oder einer anderen Notzeit. Die paarmal, die mir jene Müdigkeit, welches Zeitwort gehört zu ihr? »beschert wurde«? »zufiel«?, befand ich mich auch tatsächlich in einer persönlichen Notzeit, und traf dabei, zu meinem Glück, auf einen zweiten, der in einer ähnlichen Not war. Und immer war dieses andere eine Frau. Die Notzeit allein genügte nicht; es gehörte auch, damit jene erotische Müdigkeit uns verband, eine gerade bestandene Mühsal dazu. Es scheint eine Regel zu sein, daß Mann und Frau, bevor sie, für Stunden, so ein Traumpaar werden, beide erst einmal einen langen beschwerlichen Weg zurücklegen, sich an einem dritten, ihnen beiden fremden Ort, möglichstfern von jeder Art Heimat – oder Heimeligkeit – treffen und zuvor auch noch gemeinsam eine Gefahr oder auch bloß eine langwierige Wirrnis, mitten im Feindesland, das auch das eigene sein kann, bestanden haben müssen. Dann wird es möglich, daß jene Müdigkeit, in dem endlich still gewordenen Zufluchtsraum, den beiden, Mann wie Frau, Frau wie Mann, Ruck um Ruck zueinander hingibt, so selbstverständlich, so innig, wie das, so bilde ich es mir jetzt ein, in gleichwelchen anderen Vereinigungen, und wenn auch der Liebe, kein Vergleich ist; »wie ein Austauschen von Brot und Wein«, so hat das ein anderer Freund genannt. Oder es kommt mir, um solch ein Einswerden in der Müdigkeit zu umschreiben, eine Gedichtzeile in den Sinn: »… Worte der Liebe – ein jedes lachte …«, welche jenem »Ein Leib und eine Seele« entspricht, auch wenn um die beiden Körper das Schweigen herrscht; oder ich möchte einfach abwandeln, was, in einem Film von Alfred Hitchcock, die angesäuselt den (noch) eher distanzierten, sehr müden Cary Grant umschlingende Ingrid Bergman sagt: »So lassen Sie doch – ein müder Mannund eine betrunkene Frau, das ergibt doch ein gutes Paar!«: »Ein müder Mann und eine müde Frau, das ergibt doch das schönste Paar.« Oder es zeigt sich das »Mit dir« als einziges Wort, so wie im Spanischen hier das »contigo« … Oder in deutscher Form vielleicht statt des: »Ich bin deiner – « das: »Ich bin dir müde«. Den Don Juan stelle ich mir, nach solchen seltenen Erfahrungen, nicht als einen Verführer, sondern als einen jeweils zur richtigen Stunde, in Gegenwart einer müden Frau, müden, einen immer- müden Helden vor, dem so eine jede in den Schoß fällt – ohne ihm allerdings, sind die Mysterien der erotischen Müdigkeit dann vollbracht, je nachzutrauern; denn was mit den beiden Müden war, wird ja für immer gewesen sein, auf Lebenszeit: nichts Nachhaltigeres kennen solche zwei, als so ineinandergeraten zu sein, und keiner von ihnen bedarf auch der Wiederholung, ja scheut gar davor zurück. Nur: Wie schafft dieser Don Juan seine immer neuen, ihn und die nächste so wunderbar mürbe-machenden Müdigkeiten? Nicht bloß eine oder zwei, sondern tausendunddrei derartiger Gleichzeitigkeiten, die sich, bis zuden kleinsten Hautkuppen, auf Lebzeit in das Körperpaar einschrieben, eine jede Regung
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