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Versuch über die Müdigkeit

Versuch über die Müdigkeit

Titel: Versuch über die Müdigkeit
Autoren: Peter Handke
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wahrhaftig, untrügerisch, ohne einen einzigen Spielzug dazwischen – eben Ruck um Ruck? Unsereiner jedenfalls war nach derlei raren Ekstasen der Müdigkeit verloren für das übliche Körpertum und -getue.
    Und was blieb dir danach noch übrig?
    Noch größere Müdigkeiten.
    Gibt es denn in deinen Augen noch größere Müdigkeiten als die gerade angedeuteten?
    Vor mehr als zehn Jahren nahm ich ein Nachtflugzeug von Anchorage in Alaska nach New York. Es war ein sehr langwieriger Flug, mit dem Start, lang nach Mitternacht, von der Stadt am Cook Inlet – in den bei Flut die Eisschollen hochaufgerichtet hinein-, aus dem sie bei Ebbe dann, schwarzgrau geworden, wieder hinaus in den Ozean galoppierten –, einer Zwischenlandung im ersten Morgengrauen bei Schneetreiben in Edmonton/Kanada, einer weiteren Zwischenlandung, mit Kreisen in der Warteschleife, dann Anstehen unten auf der Piste, in der grellen Vormittagssonne von Chicago, der Landung am stickigen Nachmittag weit draußen vor New York. Endlich im Hotel, wollte ich mich sofort schlafenlegen, wie krank – von der Welt abgeschnitten – nach der Nacht ohne Schlaf, Luft und Bewegung. Aber dann sah ich unten die Straßen am Central Park weit von der Frühherbstsonne, in der, wie mir vorkam, festtäglich die Leute sich ergingen, und im Gefühl, im Zimmer jetzt etwas zu versäumen, zog es mich hinaus zu ihnen. Ich setzte mich auf eine Caféterrasse in die Sonne, nah am Getöse und an den Benzinschwaden, noch immer benommen, ja im Innern in ein beängstigendes Wanken gebracht von meiner Übernächtigkeit. Doch dann, ich weiß nicht mehr wie, allmählich?, oder wieder Ruck um Ruck? die Verwandlung. Ich habe einmal gelesen, Schwermütige könnten ihre Krisen überbrücken, indem sie über Nächte und Nächte am Schlafen gehindert würden; die in ein gefährliches Schwanken geratende »Hängebrücke ihres Ich« würde dadurch stabil.Jenes Bild hatte ich vor mir, als nun in mir die Bedrängnis der Müdigkeit Platz machte. Diese Müdigkeit hatte etwas von einem Gesundwerden. Sagte man nicht: »Mit der Müdigkeit kämpfen«? – Dieser Zweikampf war zuende. Die Müdigkeit war jetzt mein Freund. Ich war wieder da, in der Welt, und sogar – nicht etwa, weil es Manhattan war – in ihrer Mitte. Aber es kam dann noch einiges dazu, vieles, und eins eine größere Lieblichkeit als das andere. Ich tat, weit bis in den Abend hinein, nichts mehr als sitzen und schauen; es war, als bräuchte ich dabei auch nicht einmal atemzuholen. Keine auffälligen wichtigtuerischen Atemübungen oder Yoga-Haltungen: Du sitzt und atmest im Licht der Müdigkeit jetzt beiläufig richtig. Es gingen ständig viele, auf einmal unerhört schöne Frauen vorbei – eine Schönheit, die mir zwischendurch die Augen naß machte –, und sie alle nahmen mich im Vorbeigehen auf: Ich kam in Frage. (Eigenartig, daß vor allem die schönen Frauen diesen Blick der Müdigkeit beachteten, so wie auch noch manch alte Männer und die Kinder.) Aber keine Idee, daß wir, eine von ihnen und ich, darüber hinausmiteinander etwas anfingen; ich wollte nichts von ihnen, es genügte mir, ihnen endlich einmal so zuschauen zu können. Und es war auch wirklich der Blick eines guten Zuschauers, bei einem Spiel, das erst glücken kann, wenn wenigstens ein solcher Zuschauer dabeisitzt. Das Schauen dieses Müden war eine Tätigkeit, es tat etwas, es griff ein: die Akteure des Spiels wurden besser durch es, noch schöner – zum Beispiel, indem sie sich vor solchen Augen mehr Zeit ließen. Dieser langsame Lidschlag ließ sie gelten – brachte sie zu ihrer Geltung. Dem dergestalt Schauenden wurde von der Müdigkeit seinerseits das Ich-Selbst, das ewig Unruhe stiftende, wie durch ein Wunder von ihm weggenommen: alle sonstigen Verzerrungen, Angewohnheiten, Ticks und Sorgenfalten von ihm abgefallen, nichts mehr als die gelösten Augen, endlich auch so unergründlich wie die Robert Mitchums. Und dann: das selbstlose Schauen wurde tätig weit über die schönen Passantinnen hinaus, bezog ein in sein Zentrum der Welt alles, was lebte und sich regte. Die Müdigkeit gliederte – ein Gliedern, das nicht zerstückelte, sondern kenntlichmachte – das übliche Gewirr durch sie rhythmisiert zur Wohltat der Form – Form, soweit das Auge reichte – großer Horizont der Müdigkeit.
    Auch die Gewaltszenen, die Zusammenstöße, die Schreie als wohltätige Formen im großen Horizont?
    Ich erzähle hier von der Müdigkeit im Frieden, in der
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