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Versuch über die Müdigkeit

Versuch über die Müdigkeit

Titel: Versuch über die Müdigkeit
Autoren: Peter Handke
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Schluß: Solche Müdigkeiten wollen geteilt werden.
    Warum auf einmal so philosophisch?
    Es stimmt – vielleicht bin ich immer noch nicht richtig müde –: In der Stunde der letzten Müdigkeit gibt es keine philosophischen Fragen mehr. Diese Zeit ist zugleich der Raum, dieser Zeitraum ist zugleich die Geschichte. Was ist, wird zugleich. Das andere wird zugleich ich. Die zwei Kinder da unter meinen müden Augen, das bin jetzt ich. Und wie die ältere Schwester den kleinen Bruder durch das Lokal schleppt, das ergibt zugleich einen Sinn, und hat einen Wert, und nichts ist wertvoller als das andre – der Regen, der dem Müden auf den Puls fällt, ist gleich wert wie der Anblick der Gehenden jenseits des Flusses –, und es ist so gut wie schön, und es gehört sich so, undso soll es auch weiter sein, und es ist, vor allem, wahr. Wie die Schwester, ich, den Bruder, mich, um die Hüften packt, das ist wahr. Und das Relative zeigt sich im müden Blick absolut, und der Teil als das Ganze.
    Wo bleibt die Anschauung?
    Ich habe für das »Alles in einem« ein Bild: Jene, in der Regel niederländischen, Blumen-Stilleben des siebzehnten Jahrhunderts, wo an den Blüten lebensecht, hier ein Käfer, hier eine Schnecke, dort eine Biene, dort ein Schmetterling sitzt, und obwohl vielleicht keins eine Ahnung von der Gegenwart des andern hat, im Augenblick, in meinem Augenblick, alle beieinander.
    Kannst du nicht anschaulich zu werden versuchen ohne den Bildungsumweg?
    So setz dich, auch du in der Zwischenzeit hoffentlich müde genug, mit mir auf die Steinmauer am Rand des Feldwegs, oder noch besser, weil noch näher dem Erdboden, hockdich mit mir zusammen hin auf den Weg, auf den grasigen Mittelstreifen. Wie doch, mit einem Ruck, so, an diesem farbigen Abglanz, die Weltkarte jenes »Alles beieinander!« sich zu erkennen gibt: Dem Flecken Erde ganz nah sind wir zugleich im richtigen Abstand und sehen die sich aufbäumende Raupe zusammen mit dem wurmlangen, vielgliedrigen, sich in den Sand bohrenden Käfer, diesen zusammen mit der Ameise, die an einer Olive ruckelt, gleichzeitig mit dem Rindenbast, unter unseren Blicken zur Acht gerollt.
    Keinen Bildbericht, sondern Erzählung!
    Im Staub dieses andalusischen Feldwegs bewegte sich vor ein paar Tagen, so feierlich langsam wie die Leidens- und Trauerstatuen, die hier in Andalusien während der Osterwoche auf Gestellen durch die Straßen getragen werden, das Aas eines Maulwurfs dahin, unter dem, als ich es umdrehte, ein Zug von goldglänzenden Aaskäfern ging, und in den Winterwochen davor hatte ich auf einem ebensolchen Feldweg, in den Pyrenäen, in dergleichen Weise niedergehockt wie gerade wir, den Schnee fallen sehen, in winzigen körnigen Flocken, im Liegen ununterscheidbar von den hellen Sandkörnern, aber im Schmelzen dann eigentümliche Lachen hinterlassend, dunkle Flecken ganz anders als die von Regentropfen, viel großflächiger, unregelmäßiger, im so langsamen Einsickern in den Staub, und als Kind, in eben dem Abstand zur Erde, in dem wir jetzt hocken, war ich an einem ebensolchen österreichischen Feldweg im ersten Frühlicht mit dem Großvater gegangen, barfuß, gleichnah der Erde und ebenso weltraumfern den vereinzelten Kratern im Staub, den Einschlägen der Sommerregentropfen, meinem ersten, sich immer neu wiederholenlassenden Bild.
    Endlich in deinen Gleichnissen des Wirkens der Müdigkeit nicht nur die verkleinerten Maßstäbe der Dinge, sondern auch ein Menschenmaß! Aber warum immer nur du als der Müde, allein?
    Meine höchsten Müdigkeiten erschienen mir immer zugleich als die unsrigen. In Dutovljeim Karst standen später nachts die alten Männer an der Theke, und ich war mit ihnen im Krieg gewesen: Die Müdigkeit entwirft am andern, auch wenn ich nichts von ihm weiß, seine Geschichte. – Diese zwei dort, mit den naß zurückgekämmten Haaren, den hageren Gesichtern, den rissigen Nägeln, den frischen Hemden, sind Landarbeiter, labradores, die den ganzen Tag in der Einöde geschuftet haben und einen weiten Weg hatten hierher in die Stadtbar, zu Fuß gekommen, im Unterschied zu allen andern da Stehenden; so wie der eine dort, der allein sein Essen hineinschlingt, hier fremd ist, zur Montagearbeit ins Landrover-Werk von Linares beordert von seiner Wohnsitzfirma, fernweg auch von seiner Familie; so wie der alte Mann, der täglich draußen am Rand der Ölbaumfelder steht, zu seinen Füßen ein kleiner Hund, die Ellbogen in eine Astgabelung gestützt, dort um seine
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