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Versprechen eines Sommers

Versprechen eines Sommers

Titel: Versprechen eines Sommers
Autoren: Susan Wiggs
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wenig damit experimentieren, diesen Jungen zu mögen. Nur ein kleines bisschen. „Hey, sieh mal da“, flüsterte sie, als der Weg an einer Lichtung vorbeiführte, die von Birken umgeben war und auf der Wildblumen wuchsen. „Zwei Rehkitze und ihre Mutter.“
    „Wo?“ Er reckte den Kopf.
    „Pst! Du musst ganz still sein.“ Sie ging vor und verließ ganz leise den Weg. Rehe waren in diesem Teil des Waldes nicht gerade selten, aber es war immer wieder ein Ereignis, die Rehkitze mit ihrem weichen, weiß gefleckten Fell und den großen, scheuen Augen zu sehen. Die Rehe standen mitten auf der Wiese; die Kleinen hielten sich nah bei ihrer Mutter, die friedlich und in aller Ruhe äste. Lolly und Connor blieben am Rand der Lichtung stehen und beobachteten die drei.
    Lolly bedeutete Connor, sich neben sie auf einen umgestürzten Baumstamm zu setzen. Sie nahm den Feldstecher aus ihrer Gürteltasche und hielt ihn ihm hin.
    „Das ist toll“, sagte er, als er durch das Fernglas schaute. „Ich habe noch nie zuvor frei lebende Rehe gesehen.“
    Sie fragte sich, wo er herkam. Rehe waren ja nun nicht gerade selten. „Ein Rehkitz isst alle vierundzwanzig Stunden das Äquivalent zu seinem eigenen Körpergewicht“, dozierte sie.
    „Woher weißt du das?“
    „Aus einem Buch. Ich habe letztes Jahr sechzig Bücher gelesen.“
    „Puh“, erwiderte er. „Warum?“
    „Weil ich nicht genügend Zeit hatte, um mehr zu lesen.“ Sie gab ein kleines überhebliches Schnauben von sich. „Kaum zu glauben, dass Leute Rehe jagen, oder? Ich finde sie so wunderschön.“ Sie trank einen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Das Bild, das sich vor ihren Augen entfaltete, sah aus wie ein altes Gemälde – das neue Gras so zart und grün, die in der leichten Brise wippenden Köpfe der Akeleien und blauen Binsenlilien, die äsenden Rehe.
    „Ich kann bis hinunter zum See gucken“, sagte Connor. „Das ist ein echt gutes Fernrohr.“
    „Mein Vater hat es mir geschenkt. Ein Schuldgeschenk.“
    Er nahm das Fernglas von den Augen. „Was ist ein Schuldgeschenk?“
    „Wenn dein Dad es nicht zu deiner Klavieraufführung schafft und sich so schuldig fühlt, dass er dir ein extra teures Geschenk kauft.“
    „Oh. Na ja, es gibt Schlimmeres als einen Vater, der deine Klaviervorführung verpasst.“ Connor schaute wieder durch das Fernglas. „Ist das da eine Insel in der Mitte vom See?“
    „Ja. Sie heißt Spruce Island. Da wird das Feuerwerk am vierten Juli gezündet. Letztes Jahr habe ich versucht, hinzuschwimmen, aber ich hab’s nicht geschafft.“
    „Was ist passiert?“
    „Ich musste auf der Hälfte der Strecke nach Hilfe rufen. Als sie mich herausgezogen haben, hab ich so getan, als wäre ich beinahe ertrunken, damit sie nicht denken, ich wolle nur Aufmerksamkeit erregen. Sie haben meine Eltern angerufen.“ Was natürlich genau das war, was Lolly bezweckt hatte. Jetzt wünschte sie, sie hätte den Vorfall gar nicht erst erwähnt, aber da sie nun einmal angefangen hatte, darüber zu sprechen, konnte sie nicht mehr aufhören. „Meine Eltern haben sich letztes Jahr scheiden lassen, und ich dachte, sie müssten beide kommen und mich abholen.“ Dieses Eingeständnis laut auszusprechen schmerzte in ihrer Kehle.
    „Hat’s funktioniert?“, wollte er wissen.
    „Überhaupt nicht. Die Vorstellung, irgendetwas als Familie zu unternehmen, ist Vergangenheit, futsch, steht überhaupt nicht mehr zur Debatte. Sie haben mich zu diesem Therapeuten geschickt, der mir gesagt hat, ich müsse mein ‚Konzept von Familie und meine Rolle darin neu definieren‘. Also ist es jetzt meine Aufgabe, so zu tun, als hätte ich mich damit abgefunden. Meine Eltern tun ihrerseits so, als wäre eine Scheidung vollkommen in Ordnung und heutzutage keine große Sache mehr.“ Sie zog ihre Knie an die Brust und starrte auf die Rehe, bis ihr Blick verschwamm. „Aber für mich ist es eine riesige Sache. Es ist, als wäre man aufs Meer hinausgeweht worden, und niemand glaubt dir, dass du ertrinkst.“
    Erst dachte sie, er hätte ihr gar nicht mehr zugehört, weil er nichts sagte. Er blieb stumm, genau wie Dr. Schneider während der Therapiesitzungen. Dann sagte Connor mit einem Mal: „Wenn du wirklich ertrinkst und niemand dir glaubt, solltest du besser so schnell wie möglich herausfinden, wie man schwimmt.“
    Sie schnaubte. „Klar, ich werd’s mir merken.“
    Er sah sie nicht an, als wisse er irgendwie, dass sie sich erst einmal sammeln musste. Er schaute weiter durch
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