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Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)

Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)

Titel: Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)
Autoren: Miklós Bánffy
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unterwegs das Los gezogen und so entschieden, wer nach Onkel Ambrus, der selbstverständlich das Vortrittsrecht besaß, als Zweiter folgen sollte. Während also die anderen sich etwas weiter hinten hinsetzten, stellte sich Ambrus vor die unbesetzte Tischseite, gerade dem Fenster gegenüber, und die Kapelle intonierte pianissimo sein Leiblied: »Komm du her, wenn ich’s dir sage …« Und dann, an Lautstärke zunehmend, ertönte Adriennes Lieblingsweise. Hernach wurden einige stille und traurige Lieder gespielt, und als durch die Ritzen der Fensterflügel jenseits des Korridors schon Licht schimmerte, begann Ambrus zu singen. Er hatte einen leicht weinseligen, aber angenehmen Bariton. Die anderen, unbeteiligt im Hintergrund, nahmen von Zeit zu Zeit einen Schluck. Ein Lied folgte dem anderen, bis dann Onkel Ambrus nach einem feurigen Csárdás den Zigeunern mit einem Wink Halt befahl. Er trat aber nicht zurück, obwohl nach einer kurzen Pause nun Pityu mit seiner Serenade an der Reihe war, sondern ließ sich dorthin, wo er bisher gestanden war, einen Stuhl und daneben ein Glas hinstellen und rührte sich nicht vom Platz vor dem Fenster.
    Hätte er sich zu den anderen zurückbegeben, wäre er in eine schwierige Lage geraten. Dort hätte er seinen überlegenen, triumphal siegreichen »Was-soll’s-mir!«-Stil zeigen müssen, seine übliche Art des Umgangs mit Frauen, während er Adrienne gegenüber neuerdings die Rolle des berückten und von Trauer erfüllten Liebhabers gestaltete. Es schien aber möglich, dass die Frau irgendwo zum Fenster hinausspähte. So musste er, zumal die Nacht mondhell war, das Spiel für sie auch jetzt fortsetzen. So verblieb er am Ort, stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch, drehte den jungen Leuten den Rücken zu und gab dergestalt ein ziemlich gutes Bild des »wehmütigen Schäfers« ab. Manchmal sang er mitten im Musikstück auch mit, obwohl er dazu, da nun der Nächste seine Serenade darbrachte, kein Recht hatte. Aber ihm war stets mehr erlaubt als anderen. Pityu gefiel das nicht besonders, doch er musste schweigen. Er war denn auch ein bescheidener Junge, einer der schwächeren Sprosse am lebenskräftigen Baum der Kendys. Dies brachte auch sein Äußeres zum Ausdruck. Er war schmächtiger, dünner als die anderen, und die Raubvogel-Nase, die bei den übrigen Kendy-Nachfahren an den Geieradler, den Falken oder den Graukopf gemahnte, wurde bei ihm auf übertriebene Art zum exotischen Vogelschnabel, der ihn, zusammen mit dem kraftlosen Kinn, aussehen ließ, als gebe es in seinem Gesicht nichts außer dieser riesigen, gebogenen Nase und den traurig blickenden schwarzen Augen.
    Die Serenade neigte sich ihrem Ende zu, als hinter dem Hauptgebäude unerwartet lautes Pferdegetrampel ertönte. Ein Vierergespann kurvte schwindelerregend um die Ecke der Villa und blieb jäh, kaum eine Spanne hinter dem Rücken des Zimbalspielers, stehen. Die Riemenpferde schnaubten zwar ein wenig, standen aber unbeweglich. Die Zigeuner jedoch stoben auseinander; so viele sie waren, in so viele Richtungen sprangen sie.
    Onkel Ambrus setzte laut zu einem jener saftigen Flüche an, als deren Meister er vorab galt, doch der knallende Schluss blieb ihm im Hals stecken, denn derjenige, der von der hohen Britschka nun herabstieg, war Pali Uzdy, Adriennes Mann. Folglich stellte er sein Gesicht auf Lächeln um und schrie freundlich: »Servus, Pali! Wo zum Teufel kommst du zu solcher Stunde her?«
    Uzdy näherte sich mit gemessenen Schritten der Gruppe, welche die Serenade darbrachte. Im Zweireiher-Pelzmantel, der ihm bis zur Ferse reichte, wirkte seine schlaksige Gestalt vielleicht noch größer; als spazierte ein magerer Turm. Mit seinem schulterlosen Oberkörper schien er sich nach oben zu verjüngen, und mit dem langgezwirbelten schwarzen Schnurrbart und dem Spitzbart machte sein bleiches Gesicht über dem breiten Pelzkragen womöglich den Eindruck, als habe man in eine schlanke Rheinweinflasche einen als Charakterkopf gestalteten Zapfen gesteckt. Von dort oben, aus der Dunkelheit, antwortete er: »Ich komme von Almáskő, von zu Hause. Ich mag es, unerwartet loszufahren und anzukommen. Manchmal erlebt man auf diese Weise eine Überraschung, beispielsweise jetzt, eine dermaßen angenehme Überraschung«, sagte er, die Worte einzeln betonend.
    Er verteilte Begrüßungen, indem er allen seine lange, trockene Hand reichte. Seine schrägen, winzigen Augen glänzten spöttisch, und schon hatte er sich am Tisch
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