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Verraten

Verraten

Titel: Verraten
Autoren: Esther Verhoef , Berry Escober
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bei ihm öfter vor. Sie schrieb sie den Drogen zu, seiner Genialität, die von Zeit zu Zeit ganz plötzlich einen Kurzschluss verursachte, oder vielleicht auch einer Kombination von beidem. Sie stand auf, um die leeren Dosen wegzuwerfen, und wandte sich in der Tür noch einmal zu ihm um. Es war nicht schwer, das Kind in ihm zu erkennen, das er einmal gewesen war. Der zehnjährige Junge, der seine Eltern durch einen schrecklichen Autounfall verloren hatte und von einem Tag auf den anderen auf sich selbst gestellt war, inmitten einer feindlichen Umgebung, die ihm eigentlich Sicherheit und Verständnis hätte bieten sollen. Er war mit der Alltagsrealität nicht fertig geworden, die sicherlich härter gewesen war als die härtesten Musikstücke, die sein Geist hervorbrachte. Dass Susan mit vierzehn ihre Mutter verloren hatte, schuf ein Band zwischen ihnen.
    In einer plötzlichen Anwandlung ging sie zu ihm hin und schlang die Arme um seinen mageren Körper. Sie legte das Kinn auf seinen Kopf, wiegte seinen Oberkörper langsam hin und her.
    »Komm schon, Reno. Wach auf.«
    Allmählich kam er wieder zu sich. Er legte seine knochigen Hände auf ihre und drückte sie sanft. Es steckte keine Erotik in der Bewegung oder der Berührung. Es war nur ein Moment der Verbundenheit. Zwei Menschen, die einander etwas bedeuteten.
    »Eines Tages schreibe ich ein Stück über dich«, sagte er heiser. »Eine Ballade.«
    Sie drückte seine Schulter und ging in die Küche. Summte vor sich hin. Sie empfand Renos Gesellschaft als inspirierend. Er scherte sich nicht um Äußerlichkeiten, Status oder Geld. Und niemand konnte Something in the way von Nirvana so gut interpretieren wie er, verhalten, mit geschlossenen Augen, eins mit seiner Gitarre. In diesen verträumten Momenten schien es, als sei Kurt Cobain selbst aus dem Jenseits zurückgekehrt, um eine letzte Zugabe zu spielen. Susan kriegte jedes Mal eine Gänsehaut. Sie war froh, dass sie Reno damals kennen gelernt hatte und dass sie sich, wenn auch unregelmäßig, bis heute trafen.
    »Übrigens hast du einen neuen Nachbarn«, verkündete er, als sie zurückkehrte.
    »Ach ja?«
    »Ja, er hat sich bei mir vorgestellt. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht der Richtige sei und er sich an dich wenden müsste. Netter Kerl. Wirst ihn schon noch kennen lernen.«
    Später am Abend lud sie ihn in ein kleines Restaurant in ihrer Straße ein und stopfte ihn mit Steak und Paprika voll. Anschließend schaute er bei ihr noch ein bisschen fern und vernichtete dabei die restlichen Dosen Bavaria-Bier aus ihrem Kühlschrank. Gegen elf ging er, eine Wolke von Marihuanaqualm hinterlassend, der ihre Sinne unangenehm reizte, bis sie sich um zwölf Uhr wieder an den PC setzte.
    Keine Nachricht von Sil.
    Ihre Hände blieben wie eingefroren über der Tastatur hängen. Dann schüttelte sie den Kopf und fuhr den Computer herunter. Morgen vielleicht.
    In der dunklen Stille ihres Schlafzimmers rang sie vergeblich darum, ihre Gedanken abzuschalten. In den letzten zwei Jahren hatte sie sich an diesen Zustand gewöhnt. An das weinerliche Selbstmitleid, das unweigerlich nachts angeschlichen kam. Wenn sie keine Ablenkung hatte. Der Schmerz, den sie so gut kannte und den ihr Körper begrüßte wie einen alten, vertrauten Freund.
    Um vier Uhr lag sie immer noch hellwach im Bett.
    »Das ist doch Wahnsinn«, sagte sie laut.
    Sie setzte sich auf und stieg aus dem Bett. Schaltete das Licht im Wohnzimmer ein und dimmte es bis auf eine erträgliche Helligkeit. Ging in die Küche und setzte Teewasser auf. Während der Wasserkocher summte, schaltete sie im Arbeitszimmer den Computer ein. Sie kehrte in die Küche zurück und bereitete sich eine Tasse Tee zu. Zwei Stückchen Zucker und ein tüchtiger Schuss Milch. Sie setzte sich aufs Sofa und dachte an ihre erste Begegnung mit Sil vor zwei Jahren zurück. Eine Begegnung, die ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt und ihr eine krankhafte Beziehung zu ihrem PC eingetragen hatte.
    Ein Reisemagazin hatte sie beauftragt, eine Fotoreportage über den Tourismus im ägyptischen Badeort Hurghada durchzuführen. Sie hatte eine einwöchige Standard-Pauschalreise gebucht, aber ziemlich bald festgestellt, dass drei Tage Aufenthalt mehr als genug gewesen wären. Was den Urlaubern als historisches Ziel angepriesen wurde, erwies sich als kilometerlange Kette hastig hochgezogener Hotelkomplexe und Ressorts entlang einer zweispurigen Asphaltstraße, eingebettet zwischen der endlosen Wüste und dem Roten
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