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Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe

Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe

Titel: Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe
Autoren: Insel Verlag
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unsterblichen Lebens, so ist des Menschen Rolle und Aufgabe im besonderen, Seele darzustellen. Unnütz, zu streiten, ob »Seele« etwas Menschliches sei, ob sie nicht auch dem Tiere, der Pflanze innewohne! Gewiß ist Seele überall, ist überall möglich, überall vorbereitet, überall geahnt und gewollt. Aber wie wir nicht den Stein, sondern das Tier als Träger und Ausdruck der Bewegung empfinden (obwohl auch im Stein Bewegung, Leben, Aufbau, Zerfall, Schwingung ist), so suchen wir Seele vor allem bei den Menschen. Wir suchen sie da, wo sie am sichtbarsten da ist, leidet, handelt. Und der Mensch erscheint uns als die Weltecke, als die spezielle Provinz, deren derzeitige Aufgabe es ist, Seele zu entwickeln – wie es einst seine Aufgabe war, zweibeinig zu werden, den Tierpelz abzustreifen, Werkzeug zu erfinden, Feuer zu schaffen.
    So wird uns die gesamte Menschenwelt zu einer Darstellung der Seele. Wie ich in Berg und Fels die Urkräfte der Schwere, im Tier die Beweglichkeit und angestrebte Freiheit sehe und liebe, so sehe ich im Menschen (der jenes alles ja auch mit darstellt) vor allem jene Form und Äußerungsmöglichkeit des Lebens, die wir »Seele« nennen und die uns Menschen nicht nur eine beliebige Lebensstrahlung unter tausend anderen zu sein scheint, sondern eine besondere, eine auserwählte, hochentwickelte, ein Endziel. Denn einerlei, ob wir materialistisch oder idealistisch oder sonstwie denken, ob wir die »Seele« als Göttliches oder als verbrennende Materie uns denken – wir kennen sie doch alle und werten sie hoch; für jeden von uns ist beseelter Menschenblick, ist Kunst, ist Seelengestaltung die oberste, jüngste, wertvollste Stufe und Welle alles organischen Lebens.
    So wird der Mitmensch uns zum edelsten, obersten, wertvollsten Gegenstand der Betrachtung. Nicht jeder übt diese selbstverständliche Wertung natürlich und ungehemmt – ich weiß das von mir selbst. Ich habe in der Jugendzeit nähere und innigere Beziehungen zu Landschaften und Kunstwerken als zu Menschen gehabt, ja, ich träumte jahrelang von einer Dichtung, in der nur Luft, Erde, Wasser, Baum, Berg und Tier vorkämen und keine Menschen. Ich sah den Menschen so von der Bahn der Seele abgelenkt, so von Wollen beherrscht, so roh und wild hinter tierischen, äffischen, urweltlichen Zielen her, so auf Tand und Schund erpicht, daß mich vorübergehend der schlimme Irrtum beherrschen konnte, vielleicht sei der Mensch, als Weg zur Seele, schon verworfen und im Rückgang begriffen, als müsse anderswo aus der Natur diese Quelle sich ihren Weg suchen.
    Wenn man zusieht, wie zwei moderne Durchschnittsmenschen, die sich eben erst durch Zufall kennenlernen und eigentlich gar nichts Materielles voneinander begehren – wie diese zwei sich gegeneinander benehmen, dann fühlt man es beinahe sinnlich, wie dicht jeder Mensch von einer zwingenden Atmosphäre, von einer Schutzkruste und Abwehrschicht umgeben ist, von einem Netz, gewoben aus lauter Ablenkungen vom Seelischen, aus Absichten, Ängsten und Wünschen, die alle auf unwesentliche Ziele gerichtet sind, die ihn von allen anderen trennen. Es ist, als dürfe die Seele nur ja nicht zu Wort kommen, als sei es notwendig, sie ganz mit hohen Zäunen zu umgeben, mit Zäunen der Angst und der Scham. Nur die wunschlose Liebe vermag dies Netz zu durchbrechen. Und überall, wo es durchbrochen wird, blickt Seele uns an.
    Sitze in der Eisenbahn und beachte zwei junge Herren, die einander begrüßen, weil der Zufall sie für eine Stunde zu Nachbarn gemacht hat. Ihre Begrüßung ist unendlich merkwürdig, ist beinahe ein Trauerspiel. Aus Urfernen der Fremde, Kälte, aus einsamen vereisten Polen her scheinen diese harmlosen Leute einander zu begrüßen – ich denke natürlich nicht an Malaien oder Chinesen, sondern an moderne Europäer –, sie scheinen jeder für sich in einer Festung von Stolz, gefährdetem Stolz, von Argwohn und Kühle zu wohnen. Was sie reden, ist vollkommener Unsinn, wenn man es äußerlich betrachtet, ist verkalkte Hieroglyphe aus der seelenlosen Welt, der wir beständig entwachsen und deren durchbrochene Eisränder beständig an uns hangen. Selten, überaus selten sind die Menschen, deren Seele auch schon im täglichen Reden sich äußert. Sie sind schon mehr als Dichter, sind fast schon Heilige. Wohl hat auch das »Volk« Seele, der Malaie und Neger, und zeigt in Gruß und Anrede mehr Seele als der Durchschnittsmann bei uns. Aber seine Seele ist nicht die, die wir suchen und
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