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Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe

Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe

Titel: Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe
Autoren: Insel Verlag
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jedes ist unser schönster Traum. Eben sind wir gestorben und zu Erde geworden. Eben haben wir das Lachen erfunden. Eben haben wir ein Sternbild geordnet.
    Stimmen tönen, und jede ist die Stimme der Mutter. Bäume rauschen, und jeder hat über unsrer Wiege gerauscht. Straßen laufen in Sternform auseinander, und jede Straße ist der Heimweg.
    Aus »Eine Traumfolge«, 1916
    S o sehr ich Sentimentalitäten an anderen hassen kann, an mir selbst liebe und verwöhne ich sie eher ein
     wenig. Das Gefühl, die Zartheit und leichte Erregbarkeit der seelischen Schwingungen, das ist ja meine Mitgift, daraus muß ich mein Leben
     bestreiten. Wäre ich auf meine Muskelkraft angewiesen und ein Ringer oder Boxer geworden, so würde kein Mensch von mir verlangen, ich solle
     Muskelkraft für etwas Untergeordnetes ansehen. Wäre ich stark im Kopfrechnen und wäre Leiter eines großen Büros, so würde kein Mensch mir zumuten, die
     Stärke im Kopfrechnen als eine Minderwertigkeit zu verachten. Vom Dichter aber verlangt die jüngste Zeit, und manche junge Dichter verlangen es selber
     von sich, daß sie gerade das, was den Dichter ausmacht, die Erregbarkeit der Seele, die Fähigkeit sich zu verlieben, die Fähigkeit zu lieben und zu
     glühen, sich hinzugeben und in der Welt der Gefühle das Unerhörte und Übernormale zu erleben – daß sie gerade diese ihre Stärke hassen und sich ihrer
     schämen und sich gegen alles wehren sollen, was »sentimental« heißen könnte. Nun ja, mögen sie es tun; ich mache nicht mit, mir sind meine Gefühle
     tausendmal lieber als alle Schneidigkeit der Welt, und sie allein haben mich davor bewahrt, in den Kriegsjahren die Sentimentalität der Schneidigen
     mitzumachen und für die Schießerei zu schwärmen.
    Aus »Die Nürnberger Reise«, 1925
Von der Seele
    U nrein und verzerrend ist der Blick des Wollens. Erst wo wir nichts begehren, erst wo unser Schauen reine Betrachtung wird, tut sich die Seele der Dinge auf, die Schönheit. Wenn ich einen Wald beschaue, den ich kaufen, den ich pachten, den ich abholzen, in dem ich jagen, den ich mit einer Hypothek belasten will, dann sehe ich nicht den Wald, sondern nur seine Beziehungen zu meinem Wollen, zu meinen Plänen und Sorgen, zu meinem Geldbeutel. Dann besteht er aus Holz, ist jung oder alt, gesund oder krank. Will ich aber nichts von ihm, blicke ich nur »gedankenlos« in seine grüne Tiefe, dann erst ist er Wald, ist Natur und Gewächs, ist schön.
    So ist es mit den Menschen und ihren Gesichtern auch. Der Mensch, den ich mit Furcht, mit Hoffnung, mit Begehrlichkeit, mit Absichten, mit Forderungen ansehe, ist nicht Mensch, er ist nur ein trüber Spiegel meines Wollens. Ich blicke ihn, wissend oder unbewußt, mit lauter beengenden, fälschenden Fragen an: Ist er zugänglich oder stolz? Achtet er mich? Kann man ihn anpumpen? Versteht er etwas von Kunst? Mit tausend solchen Fragen sehen wir die meisten Menschen an, mit denen wir zu tun haben, und wir gelten für Menschenkenner und Psychologen, wenn es uns glückt, in ihrer Erscheinung, in ihrem Aussehen und Benehmen das zu deuten, was unseren Absichten dient oder widerstrebt. Aber diese Einstellung ist eine ärmliche, und in dieser Art Seelenkunde ist der Bauer, der Hausierer, der Winkeladvokat den meisten Politikern oder Gelehrten überlegen.
    Im Augenblick, da das Wollen ruht und die Betrachtung aufkommt, das reine Sehen und Hingegebensein, wird alles anders. Der Mensch hört auf, nützlich oder gefährlich zu sein, interessiert oder langweilig, gütig oder roh, stark oder schwach. Er wird Natur, er wird schön und merkwürdig wie jedes Ding, auf das reine Betrachtung sich richtet. Denn Betrachtung ist ja nicht Forschung oder Kritik, sie ist nichts als Liebe. Sie ist der höchste und wünschenswerteste Zustand unserer Seele: begierdelose Liebe.
    Haben wir diesen Zustand erreicht, es sei nun für Minuten, Stunden oder Tage (ihn immer innezuhalten, wäre die vollkommene Seligkeit), dann sehen die Menschen anders aus als sonst. Sie sind nicht mehr Spiegel oder Zerrbilder unseres Wollens, sie sind wieder Natur geworden. Schön und häßlich, alt und jung, gütig und böse, offen und verschlossen, hart und weich sind keine Gegensätze, sind keine Maßstäbe mehr. Alle sind schön, alle sind merkwürdig, keiner mehr kann verachtet, kann gehaßt, kann mißverstanden werden.
    Wie, vom Standpunkt der stillen Betrachtung aus, alle Natur nichts anderes ist als wechselnde Erscheinungsform ewig zeugenden,
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