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Verkehrte Welt

Verkehrte Welt

Titel: Verkehrte Welt
Autoren: Juergen von der Lippe
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Leipzig 2011 mit der Transaktion-ID 1075178 erstellt.

BEGEGNUNGEN
    Der Mann im hellen Waschledersakko saß allein an einem Ecktisch des Lokals und las das Feuilleton der SZ. Eine junge Frau trat an den Tisch und fragte: »Warten Sie schon lange?«
    Er blickte kurz auf und sagte etwas unwirsch: »Länger, als ich es zu tolerieren pflege.«
    Sie sah ihn unverwandt an und flüsterte: »Ich möchte Ihre dunklen Seiten ergründen.«
    »Möchten Sie mir nicht erst mal die Speisekarte bringen?«
    Kaum merklich schüttelte sie den Kopf.
    »Tragen Sie Ihr Waschledersakko aus Nostalgiegründen oder weil Sie damit das Sichtfenster zu Ihrer Seele putzen möchten?«, fragte die junge Frau im Neoprenanzug mit Nerzkragen und Taucherbrille auf dem Kopf unbeeindruckt weiter. Dem Mann fiel die Zigarette aus der Hand, knapp neben den Ascher. Sie ergriff sie rasch, nahm einen tiefen Zug, reichte sie zurück und sagte: »Ihre Glut ist für mich nicht zu übersehen. Möchten Sie mit mir darüber reden?«
    In diesem Moment trat eine nackte Frau an den Tisch und fragte fröhlich: »Na, ihr zwei Turteltauben, schon was gefunden?«
    »Na klar«, sagte die Neoprenfrau, »ich nehm die frittierten Heuschrecken und einen Algenwein, bitte!«
    »Ich hätte gern das Sashimi vom Seeigel und eine Brottrunk-Bärenfang-Schorle. Und nun zu Ihnen«, sagte der Mann und wandte sich an die Neoprenfrau, »was wollen Sie von mir?«
    »Die Sache ist die, ich gehöre einer Sekte an, die sich in Neoprenanzüge kleidet, wer einen Monat dabei ist, darf einen Nerzkragen tragen, nach zwei Monaten auch eine Taucherbrille, wer jeden Monat ein Mitglied wirbt, hält seinen Status, wenn nicht, verliert man erst seine Taucherbrille, dann den Nerzkragen und zuletzt den Neoprenanzug.«
    »So wie die Kellnerin?«
    »Nein, die Kellnerin ist einfach nackt, weil das hier ein Lokal mit Nacktbedienung ist!«
    »O.k., noch mal gefragt, was wollen Sie von mir?«
    »Ich möchte zusehen, wie Ihnen der Kragen platzt«, antwortete sie unverschämt grinsend.
    »Kleines dummes Luder, will mich provozieren«, dachte er und bot ihr mit einer nicht besonders einladenden Geste den freien Stuhl an seinem Tisch an.
    »Warum sollte mir der Kragen platzen?«
    »Ach, kommen Sie, das wissen Sie doch«, sagte sie mit komplizenhaftem Augenzwinkern und machte es sich auf dem Stuhl bequem.
    »Sie wollen es nur nicht wahrhaben, und deswegen befinden Sie sich in einem infantilen Fragestrudel.«
    »Wie bitte?«
    »Ja, Sie fragen ständig Sachen, die Sie schon längst wissen. Sie fragen nach der Speisekarte, obwohl Sie bereits wissen, was Sie essen möchten, Sie fragen mich, was ich von Ihnen will, dabei habe ich es Ihnen gleich gesagt, Sie fragen und fragen und fragen, aber das wird Ihre bevorstehende Gefühlseruption nicht verhindern. Ich kann den Knall schon riechen.«
    »Ich glaube, ich höre auch Ihren Knall. Nehmen Sie bitte Abstand davon, mich als Mitglied Ihrer bescheuerten Fetisch-Sekte anwerben zu wollen, ich habe erstens eine Gummiallergie und lasse zweitens dem World Wild Fund For Nature nicht nur regelmäßig ein paar Euros rüberwachsen, sondern greife gern auch mal praktisch ein.«
    Er zündete bedächtig ihren Nerzkragen an und schaute ihr dabei ganz ruhig in die Augen.
    »So«, zwitscherte die nackte Kellnerin, »hier sind schon mal eure Getränke, soll ich sie gleich auf den brennenden Nerzkragen kippen?«
    »Gern«, erwiderte die Neoprennymphe, griff nach ihrem Tauchermesser und säbelte geschickt den Kragen seiner Waschlederjacke ab.
    »Wie heißt es in der Bibel: Kragen um Kragen, Haut um Haut!«
    »Keineswegs, Gnädigste, es heißt Auge um Auge«, sprach's, riss ihr die Taucherbrille vom Kopf und wollte ihr einen schulbuchmäßigen rechten Haken aufs Auge setzen, dem sie mit einem Sidstep auswich.
    »Ja, genau, jetzt fällt's mir wieder ein, und Zahn um Zahn!«
    Mit diesen Worten schlug sie ihm den vorderen linken Schneidezahn aus. Er starrte sie ungläubig an, seine Augen weiteten sich erst, um sich dann infolge einiger Tausend geplatzter Äderchen zu röten, eine Reaktion, wie sie auch bei sehr heftigem GV häufig auftritt und vorübergehende Sehstörungen nach sich zieht, dann trat erst eine Träne über den unteren Lidrand des linken Auges, viele weitere folgten, am Ende legte er einen 20-minütigen Weinkrampf hin, der sich gewaschen hatte. Die ganze Zeit über wiegte die Neoprenfrau ihn in ihren Armen, was zwar zu einer allergischen Hautreaktion auf seiner linken Gesichtshälfte
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