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Verkehrte Welt

Verkehrte Welt

Titel: Verkehrte Welt
Autoren: Juergen von der Lippe
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unweigerlich in die falsche Ringecke marschierte.
    Mike hatte schon oft bei sich gedacht: »Ich muss mal was wegen meinem Kurzzeitgedächtnis unternehmen«, es aber immer gleich wieder vergessen. Aber heute hatte er ein gutes Gefühl. Gerade war ihm sogar der Name seines Gegners wieder eingefallen, jedenfalls teilweise. »Das war doch was mit Leuchte oder so«, dachte er, ging Kopf voran in den Clinch und traf mit der Stirn Bernds Nase, die daraufhin förmlich explodierte. Der Ringrichter schickte die Lampe erst mal in die Ecke zum Blutstillen. Mike blieb in der Ringmitte stehen, weil niemand ihm Anweisungen gab, begann aber sicherheitshalber, mit hochgerissenen Armen zu tanzen. Die Zuschauer jubelten ihm freundlich zu, und plötzlich fühlte sich Mike in seine Kindheit zurückversetzt. Seine Mutter war Balletttänzerin gewesen, und sein Vater, ein Bergmann, hatte ihn oft mitgenommen unter Tage, um seine Klaustrophobie zu bekämpfen, die er im Förderkorb, mit zehn Kumpels zusammengepfercht, besonders intensiv spürte. Er hätte viel lieber im Theater gesessen und seiner Mutter zugeschaut, im Schwanensee zum Beispiel, aber Vater sagte: »Wo hasse mehr Angst, im Theater oder auf Zeche?« »Auf Zeche«, hatte Mike wahrheitsgemäß geantwortet, und sein Vater sagte: »Siehße, und daran müssen wir arbeiten.«
     
    Das war auch das Letzte, was Vater je zu ihm gesagt hatte, denn zwei Tage später war er bei einer Schlagwetterexplosion ums Leben gekommen. Deswegen hatte er sich damals ohne Zögern für die Bühne entschieden, aber beim Probieren von Mamas Ballettschuhen war ihm klar geworden, dass er etwas Passenderes suchen musste. Auf die Idee zu boxen hatte ihn schließlich Onkel Heinz gebracht, der nach Papas Explosion schlagartig bei ihnen eingezogen war.
    Am nächsten Tag hatte Mamas neuer Lebensgefährte ihm zwei Paar alte Boxhandschuhe gezeigt und gesagt: »Mike, hömma, folgendermaßen läuft dat ab getz, du machs, wat ich dir sach, und wenn dir dat nich passt, boxen wir drei Runden, und immer wenn du mich umhaußt, brauchße dat nich zu machen, wie findse dat?«
    Das fand Mike o.k., und als der Onkel sagte: »Getz verpiss dich mal für zwei Stunden, Mama und ich wollen 'ne Runde poppen!«, reichte er ihm nur stumm die Handschuhe.
    Eine Minute später war der Onkel k.o. Als er wieder zu sich kam, sagte er: »Wow, wat ein Hammer, aus dich mach ich ein ganz Großen, ich seh schon die Plakate: Dortmunder Westfalenhalle, Hauptkampf: der Panther aus dem Pott gegen den Killer aus Kiel, wie findse dat?«
    Das fand Mike toll, leider war es auch das Letzte, was Onkel Heinz je zu ihm gesagt hatte. Noch am selben Abend war er mit ihren gesamten Ersparnissen verschwunden. Jahrelang hatte Mike geglaubt, sein Hammer wäre schuld daran und somit an Mamas Tränen. Die Erinnerungen flogen nun in Lichtgeschwindigkeit an seinen geschwollenen Augen vorbei, und plötzlich fühlte Mike die gleiche Wut in sich aufsteigen wie damals auf Onkel Heinz. Ein konvulsivisches Zucken schüttelte seinen ungeschlachten Körper und gleichzeitig alle Blockaden von ihm ab, wie Wasser von einem frisch gebadeten Hund.
    Das Publikum, das ein sehr feines Gespür dafür hat, wenn im Sport große Dinge bevorstehen, begann zu toben. Der Referee gab den Kampf wieder frei. Emotionslos registrierte Mike, dass Bernds Nase mittlerweile auf Nachttischlampengröße angeschwollen war. Nie wieder würde er irgendeine Anweisung benötigen. Mike fühlte sich unbesiegbar, schwerelos einerseits, andererseits so kraftvoll wie eine gemischte Raubtiergruppe.
    Zwei schnelle Schritte brachten ihn in die richtige Distanz, ein linker Haken auf die Leber zog die Deckung des Gegners nach unten und machte den Weg frei für eine Rechte, die - gäbe es im Boxen ein Pendant zum Tor des Jahres - für alle Zeiten diese Liste angeführt hätte. Die Wiederherstellung von Bernds nahezu atomisiertem Riechkolben hielt ein Chirurgenteam fast ein Jahr in Lohn und Brot, noch in der 28. Reihe registrierte eine begeisterte Zuschauerin Blutspritzer auf ihrem weißen Blüschen - Olli Würgener war sprachlos.
    »Wow, Mike«, brach es später auf der Heimfahrt im Bus aus ihm heraus, »was für ein Hammer! Sensationell! Aus dir mach ich einen ganz Großen. Ich seh schon die Plakate am Madison Square Garden. Aber nun verrat mir doch mal, was da plötzlich in dich gefahren ist?« »Wie? Wann?«, fragte Mike.
    Dieses eBook wurde von der Plattform libreka! für Leipzig 2011 mit der Transaktion-ID
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