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Verkehrt!

Verkehrt!

Titel: Verkehrt!
Autoren: Thorsten Nesch
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Ohr.
    – Morgenstund hat Gold im Mund, meine Liebe …
    Und Kaugummi, denke ich, denn Mutti kaut bereits auf ihrem ersten Streifen herum. Sie kaut den ganzen Tag Spearmint-Gum. Das soll gut für die Zähne sein, sagt sie. Optisch gibt das Punktabzüge, aber sie kaut nur privat, nicht, wenn sie jemanden trifft.
    Ich höre nicht weiter hin, lege meinen Ellbogen auf die Beifahrertür und stütze meinen Kopf ab. Die Einfamilienhäuser unserer Siedlung flitzen an uns vorbei.
    So werde ich mich einmal an meine Mutter erinnern: kaugummikauend, mit einem fast unsichtbaren Headset, scheinbar mit sich selber sprechend. Was für ein komischer Gedanke.
    Was wohl Vati macht? In Singapur ist es jetzt Abend. Morgen skypen wir mit ihm, mit Webcam. Und so werde ich mich in Zukunft an meinen Vati erinnern: seine Sprache verzerrt, sein Gesicht gepixelt und ruckelnd wie das eines Auslandsreporters im Krisengebiet.
    Warum sucht er sich nicht eine Arbeit, bei der er nicht so viel herumreisen muss?
    Ich wende mich an Mutti, – Du, warum sucht sich Vati nicht …?
    Sie wirft mir den kürzesten Blick der Menschheit zu und schüttelt den Kopf. Sie hört gerade ihrer Claudia zu. Die hat Probleme mit Männern. Soviel ich weiß.
    Wir halten hinter einem Kombi. Die Ampel ist rot, an der nächsten Ecke ist die Schule. Über die Kreuzung rollen Lastwagen mit Kirmesanhängern. Einer nach dem anderen. Lange Anhänger mit übergroßen Metallgerüsten.
    Ein kurzer Pfiff schräg über mir.
    Auf dem Bürgersteig ragt ein Baugerüst an einer Hausfassade bis unter das Dach. Maler in weißen, besprenkelten Anzügen stehen auf den verschiedenen Stockwerken und streichen die Fassade beige. Ein junger Typ mit Bubigesicht, wahrscheinlich der Lehrling, pfeift ein zweites Mal, worauf sich die anderen vier Kollegen über die Brüstung zu uns herunterbeugen.
    Sie sehen Mutti und mich im Porsche Cabrio, ich in meinem gelben Tanktop von Fraise, das durch seine Farbe meine braun gebrannten Schultern besonders betont.
    Motorknattern nähert sich von hinten. Jens, der zwei Klassen über mir ist, hält auf seinem Scooter neben mir und spielt am Gas. Es zuckt in meinem Magen. Ich schaue weg. Na ja, zumindest tue ich so.
    Das schwarze Visier seines Helmes ist mir zugewandt. Das sehe ich aus den Augenwinkeln. Außerdem spannt er die Armmuskeln dazu an, die unter seinem weißen Muscle-Shirt herausschauen. Einfach süß.
    Mutti bekommt davon nichts mit, zu sehr mit sich und Claudia beschäftigt.
    Ich atme tief ein, rieche die Scooter-Abgase, und tue so, als würde ich ihn nicht bemerken.

6

    Als ich den Bahndamm hochklettere, ärgere ich mich immer noch über den Satz meines Vaters: Nimm dir aus meiner Hose, was du brauchst!
    Und dann schüttele ich das Ding, und es fallen 2 , 16  Euro raus. Lächerlich. Ich weiß, hätte er gestern Abend vier Cent mehr gehabt, dann hätte er sich noch ein großes Bier leisten können, und die Hose wäre leer gewesen. Jetzt habe ich insgesamt 2 , 80  Euro. Das reicht für Pommes mit Cola zum Mittagessen.
    Unter meinen Sohlen knirscht das Schotterbett. Die klobigen Steine geben unter meinen Füßen nach. Die Schienen zischen zwar nicht, trotzdem werfe ich einen Blick nach links, einen nach rechts, und schon bin ich auf der anderen Seite und tauche zwischen zwei Sträuchern ins Gebüsch.
    Es gibt zwei Wege zur Schule: den versicherten längeren und den unversicherten kürzeren. Das Problem ist die Eisenbahnstrecke. Entweder gehe ich bis zum nächsten Tunnel, und der ist achthundert Meter weiter die Straße runter, oder ich kreuze die Schienenverkehrsinsel hinter unserem Mietshaus, ein Dreieck fast so groß wie ein Fußballfeld, wild und dicht bewachsen mit Büschen und Bäumen, durch das sich ein handbreiter Fußpfad schlängelt.
    Dornengestrüpp kratzt über meine Hände und über meine Jeansjacke und Hose, beide blau, beide secondhand. Ich biege Äste zur Seite, schwimme aufrecht durch den Dschungel.
    – Junge! Junge!, höre ich den alten Pernod, noch bevor ich sein sonnengegerbtes Gesicht mit dem vergilbten Bart sehe, der das ganze Jahr aus seinem braunen Lodenmantel ragt.
    Vor drei Jahren habe ich ihn hier zum ersten Mal getroffen. Nach den ersten Schulwochen kamen wir ins Gespräch. Er stellte sich mir als Pernod vor. Das ist französisch und klingt besser als Schnaps, sagte er.
    Meinen Namen kann er sich nicht merken, daher nennt er mich immer Junge.
    – Hi, begrüße ich ihn.
    – Kannst du mir was Geld wechseln?, fragt er
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