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Vergiss die Toten nicht

Vergiss die Toten nicht

Titel: Vergiss die Toten nicht
Autoren: Mary Higgins Clark
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Backsteinhaus an der Ecke 27. Straße und Seventh Avenue verfügte über ein Schaufenster, dessen Inhalt ihn magisch anzog. Es handelte sich um das Modell eines modernen, vierzigstöckigen Wohn- und Bürokomplexes, überragt von einem Turm mit goldener Kuppel. Die postmoderne Fassade aus Kalkstein bildete einen interessanten Kontrast zu dem warmen Farbton des Backsteinturms, der leuchtete, während sich die Kuppel stetig drehte.
    Jed schob die Hände in die Taschen seiner Jeans und beugte sich vor, bis sein Gesicht fast das Fenster berührte. Einem unbeteiligten Beobachter wäre er wohl nicht weiter aufgefallen.
    Er war durchschnittlich groß, hellblond und schlank.
    Allerdings täuschte dieser Eindruck. Denn Jeds Körper unter dem ausgeblichenen Sweatshirt war hart und muskulös, und er verfügte trotz seiner Magerkeit über erstaunliche Kräfte. Bei näherer Betrachtung hätte man bemerkt, dass seine Haut durch zu viel Sonne und Wind ledrig geworden war. Und wer ihm in die Augen blickte, wurde in den meisten Fällen spontan von einem beklommenen Gefühl ergriffen.
    Jed war achtundreißig Jahre alt und hatte sich bisher überwiegend allein in der Welt herumgetrieben. Als er nach fünf in Australien verbrachten Jahren zurückgekommen war, um seiner verwitweten Mutter einen seiner seltenen Besuche abzustatten, hatte er erfahren, dass sie das kleine Grundstück in Manhattan verkauft hatte, das sich seit vier Generationen im Familienbesitz befand. Früher hatte das Haus ein Pelzgeschäft beherbergt, das einst sehr erfolgreich war, aber nun kaum noch etwas abwarf. Die Wohnungen über dem Laden waren vermietet.
    Als Jed von dem Verkauf erfuhr, war er in die Luft gegangen und hatte sich heftig mit seiner Mutter gestritten.
    »Was hätte ich anderes tun sollen?«, jammerte die Mutter.
    »Das Haus ist baufällig, die Versicherung wird immer teurer, die Steuern steigen, die Mieter ziehen aus. Das Pelzgeschäft steht kurz vor der Pleite. Falls du es noch nicht mitbekommen haben solltest: Heutzutage ist es verpönt, Pelz zu tragen.«
    »Vater wollte, dass ich das Haus einmal erbe!«, schimpfte Jed.
    »Du hattest kein Recht, es zu verkaufen.«
    »Dein Vater wollte auch, dass du mir ein guter Sohn bist, heiratest, eine Familie gründest, Kinder hast und einer anständigen Arbeit nachgehst. Aber du bist nicht einmal nach Hause gekommen, als ich dir schrieb, dass er im Sterben liegt.«
    Sie brach in Tränen aus. »Wann hast du das letzte Mal ein Foto von Königin Elizabeth oder Hillary Clinton in einem Pelzmantel gesehen? Adam Cauliff hat mir einen ordentlichen Preis für das Haus bezahlt. Jetzt habe ich Geld auf der Bank und kann für den Rest meines Lebens ruhig schlafen, ohne mir Sorgen wegen der Rechnungen machen zu müssen.«
    Jeds Verdruss wuchs, als er das Modell des Neubaus betrachtete. Verbittert las er die Inschrift unter dem Turm: »Ein Signal der Ästhetik, das den Stil des neuesten, faszinierendsten Wohnviertels von Manhattan prägen wird.«
    Der Turm sollte auf dem Grundstück gebaut werden, das seine Mutter an Adam Cauliff verkauft hatte.
    Dieser Grund war ein Vermögen wert. Doch Cauliff hatte seiner Mutter eingeredet, dass nicht viel damit anzufangen sei, da gleich daneben eine denkmalgeschützte Ruine, die alte Vandermeer-Villa, stand. Und Jed wusste genau, dass seine Mutter auch nicht im Traum an einen Verkauf gedacht hätte, hätte Cauliff sie nicht beschwatzt.
    Ja, er hatte ihr einen angemessenen Preis dafür bezahlt. Aber dann war die Villa abgebrannt. Ein Baulöwe namens Peter Lang hatte sich das Anwesen sofort unter den Nagel gerissen und plante, es mit der ehemaligen Parzelle der Kaplans zusammenzulegen. Auf diese Weise würde ein Filetstück entstehen, das um einiges mehr wert war als die beiden einzelnen Grundstücke zuvor.
    Jed hatte gehört, dass eine Obdachlose, die in der Vandermeer-Villa kampierte, ein Feuer angezündet hatte, um sich zu wärmen. Warum hat die Alte das verdammte Baudenkmal nicht abgefackelt, bevor Cauliff meiner Mutter unser Haus abgeluchst hat?, schimpfte Jed in sich hinein. Hass und Zorn stiegen in ihm auf. Ich werde mir diesen Cauliff vorknöpfen, schwor er sich. Gott ist mein Zeuge, den kaufe ich mir. Da die Bruchbude nicht mehr unter Denkmalschutz steht, wäre unser Grundstück nun mehrere Millionen wert.
    Unwirsch wandte er sich vom Fenster ab. Der Anblick des Modells verursachte ihm Übelkeit. Er ging zur Seventh Avenue, wo er eine Weile unentschlossen stehen blieb. Dann
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