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Vergeltung

Vergeltung

Titel: Vergeltung
Autoren: Julie Hastrup
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Jahren treu unterrichtet hat. Hin und wieder bekommt sie
einen Brief oder eine Postkarte von einem ehemaligen Schüler, der ihr erzählen
möchte, wie es ihm ergangen ist, seit er die Schule verlassen hat. An Rigmor
Andersen erinnert man sich noch, wenn die anderen Lehrer längst in
Vergessenheit geraten sind. Oft, wenn Rebekka bei ihr ist, sitzt Rigmor an
ihrem Tisch und korrigiert Hefte, und wenn sie auf eine besonders gut gelungene
Geschichte stößt, liest sie sie laut vor, und sie ergötzt sich und grämt sich
und macht kleine Bemerkungen, während sie sich durch ein Aufsatzheft nach dem
anderen arbeitet.
    Rebekka verfällt in einen
Zustand des Wohlbehagens. Sie versinkt ganz in dem weichen, abgenutzten Sofa,
sie fühlt sich sicher, sodass sie nicht länger an ihren Nägeln pult oder sich
auf die Lippe beißt. Manchmal lacht sie sogar. Stundenlang schaut sie auf den
Fjord hinaus. Auf das Licht, die Vögel, den Himmel, der allmählich dunkler
wird. Dann nähert die Uhr sich langsam der Abendessenszeit, und Rigmor blickt
über die Kante ihrer Lesebrille und sagt: »So, liebe Rebekka, jetzt musst du
bestimmt nach Hause«, und Rebekka steht widerwillig auf und bedankt sich und
zieht sich den klammen Mantel an. Der Schulranzen ist plötzlich so schwer und
der Weg nach Hause zu den Eltern endlos.
     
    Sie nahmen auf den großen
Sofas im Wohnzimmer Platz. Rebekka räusperte sich und sah die Eltern an.
    »Es tut mir sehr leid, dass Sie Ihre
Tochter verloren haben. Und ich weiß, dass es schwierig ist, das Gleiche immer
wieder zu erzählen. Aber ich möchte Sie bitten, mir von Samstag zu erzählen.
Was genau haben Sie gemacht?«
    Für einige Sekunden schwiegen sie, dann richtete Gert Gudbergsen
sich auf.
    »Anna wollte wie jeden Samstag ausgehen. Wir haben zusammen zu Abend
gegessen. Das ist eine Tradition, die sich eingebürgert hat. Ein gemütliches
Abendessen am Samstag, nur wir drei, und dann ist sie los. Mit dem Fahrrad. Wie
sie das immer gemacht hat, wenn sie in die Stadt wollte. Sie wollte sich mit
ihren Freun dinnen treffen, mit Mia und Katja. Sie wollten tanzen gehen. Wir
haben ja schon eine Namensliste gemacht.«
    Gert Gudbergsen sah Rebekka an, und Michael nickte ihm freundlich
zu.
    »War irgendetwas anders an ihrem Verhalten?« Rebekka sah zu Sanna
Gudbergsen hinüber, die völlig abwesend zu sein schien. Sie hatte noch nicht
ein Wort gesagt, ihre Augen waren glasig, und sie knetete und rang ihre Hände,
sodass sie immer röter wurden. Wieder antwortete Gert Gudbergsen.
    »Absolut nichts. Anna war ganz wie immer. Sie hat sich gefreut. Sie
wollte in eine neue Diskothek hier in der Stadt. Ich weiß nicht, wie sie heißt:
Jimbo… Jimba…«
    »Jimbalaya. Die Diskothek heißt Jimbalaya«, warf Sanna Gudbergsen
plötzlich ein. Sie hatte einen singenden Tonfall, und Rebekka vermutete, dass
sie Schwedin war.
    »Genau. Genauso heißt die Diskothek.« Gert Gudbergsen drückte seiner
Frau die Hand.
    »In was für einer Stimmung war sie, als sie ging?«
    »Sie hatte gute Laune, wie üblich. Sie freute sich auf den Abend.
Sie tanzt gern, hat gerne Spaß. Sie geht gern … sie ging gerne aus.«
    Gerd Gudbergsens Stimme brach, und er fischte eine Packung
Zigaretten aus der Hemdtasche, schüttelte eine heraus und zündete sie mit einem
schweren Silberfeuerzeug an, das auf dem Tisch lag. Er inhalierte tief.
    »Hatte Anna mit jemandem Streit oder hat sie sich dahin gehend
geäußert, dass sie wegen etwas oder jemandem beunruhigt war oder sich sogar
ängstigte?«, fragte Rebekka.
    Gert und Sanna Gudbergsen schüttelten den Kopf.
    »Nein. Der Gedanke ist absurd. Anna war bei allen beliebt.«
    Gert Gudbergsen inhalierte noch einmal tief.
    »Wie war Ihr Verhältnis zueinander?« Rebekka beugte sich vor, nahm
Augenkontakt zu Gert Gudbergsen auf und hielt seinen Blick fest.
    »Wie unser Verhältnis war?«, wiederholte er und runzelte die Stirn.
Seine Stimme wurde etwas lauter. »Anna ist … Anna war unsere Tochter, und wir haben
sie sehr geliebt.«
    Sanna Gudbergsens Blick flackerte kurz, als seine Tonlage sich
änderte, und Gert Gudbergsen stand schnell vom Sofa auf und streckte sich. Dann
ging er zum Fenster und fuhr fort: »Ansonsten war unser Verhältnis wohl so wie
zwischen den meisten jungen Leuten und ihren Eltern, für gewöhnlich verstanden
wir uns gut. Wir haben diskutiert und manchmal auch gestritten, vor allem meine
Frau und Anna.« Gert Gudbergsen machte eine Kopfbewegung zu Sanna Gudbergsen
hin. »Aber das ist wohl
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