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Vergeben, nicht vergessen

Titel: Vergeben, nicht vergessen
Autoren: Catherine Coulter
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wollen.
    Er wünschte, sie würde aufwachen. Sie lag da wie tot. Er überlegte, ob er sie ins Krankenhaus fahren sollte. Er hatte kein Telefon, konnte also niemanden anrufen. Sogar sein Handy hatte er zu Hause gelassen. Außerdem war es spät. Er wusste nicht, wo das Krankenhaus lag, wie weit es bis dahin war. Und er wusste nicht, wer ihr das angetan hatte, wer sie missbraucht und geschlagen hatte oder wo derjenige sich aufhielt. Er würde sie erst morgen zum Arzt bringen, heute würde er bei ihr bleiben und sie nicht aus den Augen lassen. Morgen würde er sie zur Polizei fahren. In Dillinger musste es einen Polizisten geben. Heute Abend jedoch würde er sich um sie kümmern. Wenn sie allerdings aufwachte und Schmerzen haben sollte, würde er sie ins Krankenhaus fahren, egal zu welcher Stunde. Aber nicht jetzt.
    Hatte sie sich selbst gerettet, war sie irgendwie geflüchtet und in den Wald gerannt? War sie über eine Wurzel oder einen Stein gestolpert und hatte sich den Kopf verletzt? Oder hatte das Ungeheuer, das sie missbraucht hatte, sie dort abgelegt und dem Wald zum Sterben überlassen? Er beugte sich über sie und streichelte ihr zärtlich über den Kopf. Er konnte keine Beulen ertasten. Der Puls an ihrem Hals schlug nach wie vor langsam und regelmäßig.
    Wenn sie dem Mann, der ihr das angetan hatte, entkommen war, so bedeutete das, dass der Schuft nach ihr suchte.
    Das hatte er bereits intuitiv erfasst, als er sie in seine Hütte getragen hatte. Aus diesem Grund hatte er auch die Tür verriegelt. Er überprüfte sein Browning Savage 99 Gewehr. Es war bereits mit einem .2.43-Magazin geladen. Auf dem Tisch neben dem Sofa lag seine Smith &c Wesson .357 Magnum. Diesen Revolver liebte er, seit sein Vater ihn ihm an seinem vierzehnten Geburtstag geschenkt und ihm seine Handhabung erklärt hatte. Wegen ihrer schwarzen Verkleidung aus rostfreiem Stahl wurde die Waffe »Schwarze Magie« genannt. Er schoss gerne, hatte die Waffe jedoch noch niemals gegen einen Menschen gerichtet.
    Er nahm sie in die Hand. Wie gewohnt war sie durchgeladen. Mit dem Revolver in der Hand blickte er zur Tür.
    Was für ein Kerl tat so etwas?
    Er bereitete sich einen Salat zu und verspeiste ihn, ohne den Blick von dem Kind zu nehmen. Dann wärmte er die Suppe auf. Sie duftete wunderbar. Er hielt ihr einen Löffel davon unter die Nase. »Nun komm schon, möchtest du nicht ein wenig kosten? Campbell ist eine gute Marke, und die Suppe kommt heiß von einem alten Holzkohleofen. Es dauert zwar geraume Zeit, bis die Sachen warm werden, aber es klappt. Mach schon, meine Kleine, wach auf.«
    Ihre Lippen bewegten sich. Er holte einen kleineren Löffel, tauchte ihn in die Suppe und presste ihn sanft gegen ihre Unterlippe. Zu seiner Überraschung und Erleichterung öffnete sie den Mund. Er flößte ihr die Suppe ein. Sie schluckte, und er gab ihr mehr.
    Sie aß fast die halbe Schüssel. Erst dann öffnete sie die Augen. Sie machte einen verwirrten Eindruck. Zögernd wandte sie ihm ihr Gesicht zu und schaute zu ihm auf. Er lächelte und sagte: »Hallo, hab keine Angst. Ich heiße Ramsey. Ich habe dich gefunden. Du bist jetzt in Sicherheit.«
    Sie öffnete die Lippen und machte das merkwürdigste Geräusch, das er jemals gehört hatte, ein leises Wimmern, das tiefe Angst und Hilflosigkeit signalisierte.
    »Ist schon gut. Keiner wird dir hier wehtun. Bei mir bist du sicher.«
    Ihr Mund öffnete sich, doch es kam kein Ton heraus. Ihre Arme schossen unter der afghanischen Decke hervor, und wortlos drosch sie auf ihn ein. Das einzige Geräusch, das ihre Kehle von sich gab, war ein grauenhaftes Wimmern. Er wollte dieses entsetzte Häuflein Mensch an sich drücken, sie beschützen.
    Eilig setzte er die gefährdete Suppenschale ab und nahm das tobende Kind an den Handgelenken. Ihre Augen schlossen sich schmerzerfüllt. Beide Handgelenke waren aufgeschürft. Man hatte sie gefesselt. »Es tut mir Leid, meine Kleine. Es tut mir wirklich Leid. Bitte wehre dich nicht gegen mich. Ich werde dir nichts tun.«
    Sie rollte sich zu einer Kugel zusammen und drehte ihm, die Hände über dem Kopf, den Rücken zu. Sie bewegte sich nicht mehr.
    Er lehnte sich zurück und überlegte, was er tun sollte. Sie war total verängstigt. Sie hatte Angst vor ihm. War sie taub?
    Sehr leise und in der Hoffnung, dass sie ihn hören würde, sagte er: »Deine Handgelenke und Fesseln sind verletzt. Soll ich sie dir verbinden? Dann wirst du dich besser fühlen.«
    Hatte sie ihn gehört? Sie
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