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Vergeben, nicht vergessen

Titel: Vergeben, nicht vergessen
Autoren: Catherine Coulter
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blieb stumm und reglos. Er zog ein altes Unterhemd unter einem mitgebrachten Kleidungsstapel hervor und zerriss es zu Streifen. Er fühlte ihre Anspannung, als er ihre Hand- und Fußgelenke säuberte, sie mit einer desinfizierenden Heilsalbe einrieb und anschließend mit den weichen Stoffstreifen verband. Nun hatte er alles getan, was momentan in seiner Macht stand. Langsam und jede abrupte Bewegung vermeidend erhob er sich und schaute auf sie herunter. Sie war wieder zu einer Kugel zusammengerollt, ihre Hände hatte sie unter die Decke gesteckt.
    Zumindest hatte sie genügend Suppe gegessen. Verhungern würde sie nicht. Sie war warm. Sie war sauber. Er hatte ihr eine antibiotische Salbe auf die schlimmsten Verletzungen gestrichen. Umsichtig verschloss er die Läden und zog die Vorhänge zu. Niemand konnte nun hereinspähen. Er verrammelte die Fenster mit Bolzen. Wenn jetzt jemand hereinkommen wollte, würde er sie einschlagen müssen. Er ging zur Hintertür und verriegelte sie ebenfalls. Die Tür besaß jedoch keine Kette. Deshalb zog er einen der Küchenstühle heran und schob ihn unter den Türgriff. Falls jemand die Tür gewaltsam öffnen wollte, würde ihn das Poltern über den Fußboden wecken.
    Ein letztes Mal betrachtete er sie. »Wenn du aufwachst, ruf mich. Ich heiße Ramsey. Ich wohne hier. Du bist völlig in Sicherheit. Okay? Wenn du auf die Toilette musst, sie ist gleich hinter der Küche. Sie ist sauber. Ich habe sie gerade gestern erst geputzt.«
    Die Decke bewegte sich ein wenig. Gut, sie schien ihn verstanden zu haben. Aber sie gab keinen Laut von sich, nicht einmal dieses steinerweichende Wimmern.
    Sein Bett stand auf der anderen Seite des Raums. Er zog sich nicht aus. Das Gewehr und seinen Smith & Wesson-Revolver legte er auf den kleinen Tisch neben dem Bett, unmittelbar neben die Leselampe. Er markierte sorgfältig die Seite seines Krimis, ehe er das Buch zuklappte.
    Die Lampe ließ er brennen. Falls die Kleine in der Nacht aufwachte, sollte sie sich nicht vor der Dunkelheit fürchten.
    Lange Zeit konnte er nicht schlafen. Als er schließlich doch eindöste, träumte er vom Gesicht eines Mannes, der durch das Fenster hindurch auf das kleine Mädchen glotzte. Im Traum wachte er auf und stolperte ans Fenster, durch das kein Gesicht starrte, denn die Gardinen waren fest zugezogen, die Läden geschlossen. Doch er konnte nicht anders, er musste sie aufreißen. Er spähte in die Dunkelheit - und entdeckte statt einer mordlüsternen Männerfratze das Gesicht einer Frau, das ihm Gift und Galle entgegenspuckte und drohte, ihn umzubringen.
    In der Morgendämmerung wurde er vom herzzerreißenden Wimmern des Kindes geweckt.

2
    Aus dem Antlitz des Mädchens war jegliche Farbe gewichen, das konnte er selbst im fahlen, vom Licht der Lampe notdürftig erhellten Morgenlicht erkennen. Ihre Augen waren weit aufgerissen und starrten ihn an. Ihre Angst war so offensichtlich, dass sie ihm unter die Haut ging.
    »Nein«, sagte er sehr langsam und ohne sich zu bewegen. »Es ist alles gut. Ich bin es, Ramsey. Ich bin hier, um für dich zu sorgen. Ich werde dir nicht wehtun. Hattest du einen Alptraum?«
    Sie bewegte sich nicht, sie lag nur da und starrte ihn an. Dann schüttelte sie sehr langsam den Kopf. Er beobachtete, wie ihre Arme sich unter der Decke bewegten, sah, wie ihre kleinen Hände auftauchten. Sie waren zu Fäusten geballt. Die Verbände an ihren schmalen Gelenken sahen geradezu obszön aus.
    »Hab keine Angst. Bitte.«
    Er knipste das Licht aus. Es wurde rasch heller. Ihre Augen waren himmelblau, riesig in dem zierlichen Gesicht, ihre Pupillen geweitet. Sie hatte eine schmale, gerade Nase, dunkle Wimpern und Augenbrauen, ein rundes Kinn und zwei Grübchen. Sie war ein hübsches kleines Mädchen, und sie würde schön sein, wenn sie lachte und sich die Grübchen vertieften. »Hast du Schmerzen?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    Er spürte eine tiefe Erleichterung. »Kannst du mir deinen Namen sagen?«
    Sie sah ihn an, vollkommen verkrampft, als ob sie nur auf eine Gelegenheit wartete, ihm zu entkommen.
    »Möchtest du auf die Toilette?«
    Er konnte es in ihrem Blick erkennen und lächelte. Ihre Nieren arbeiteten. Alles schien gut zu arbeiten bis auf die Tatsache, dass sie nicht reden konnte. Er wollte sie berühren, um
    ihr auf die Beine zu helfen, unterließ es jedoch. Er sprach mit leiser, sachlicher Stimme. »Das Badezimmer ist auf der Rückseite der Küche. Die Küche ist gleich hinter dir. Brauchst du
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