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Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege

Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege

Titel: Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
Autoren: Charlotte Link
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wollte noch etwas hinzufügen, aber gerade da ging eine Bewegung durch die wartende Menge, und das Stimmengewirr wurde lauter. »Das Schiff!« schrie jemand. »Dort hinten kommt es!«
    »Tatsächlich! Ich sehe die Segel!«
    »Es kommt wirklich!«

    Die ermatteten Lebensgeister regten sich wieder. Die Menschen drängten nach vorn, um auch einen Blick auf das Schiff zu ergattern. Die Hitze und das lange Warten waren von einem Moment zum anderen vergessen. Auch Viola stellte sich auf die Zehenspitzen.
    »Ich kann gar nichts sehen«, jammerte sie.
    »Wenn es anlegt, werden wir es schon sehen«, beruhigte Lord Sheridy, »wegen dieser wenigen Augenblicke sollten wir uns nicht von den Massen tottrampeln lassen.«
    »Ich bleibe jedenfalls hier«, sagte Viola entschlossen, »Sarahs Tochter möchte ich sofort sehen. Aber, ganz im Vertrauen, Harriet, fürchtest du dich nicht ein bißchen? Dieses Kind kommt aus einem recht unzivilisierten Land, es wird englische Sitten überhaupt nicht kennen!«
    »In diesem Alter sind Kinder noch sehr lernfähig«, entgegnete Harriet, »im übrigen glaube ich, daß Henry und Sarah sehr vornehm lebten. Sie sollen eine feudale Plantage am Ufer des Mississippi besessen haben.«
    »Eine Plantage? Weißt du, das ist gewiß etwas sehr Wertvolles, aber man hört doch so allerlei... diese Leute besitzen Sklaven. Schwarze. Mit denen ist das Kind natürlich auch zusammengekommen. Also, ich beneide dich nicht!«
    Harriet, der schon wieder schwindlig war, hoffte, Viola werde irgendwann aufhören zu reden. Doch deren Neugier war noch nicht gestillt.
    »Wenn Henry und Sarah tot sind«, sagte sie, »dann gehören Haus und Land in Louisiana wohl der kleinen Elizabeth?«
    »Nein, es mußte alles verkauft werden. Henry hinterließ Schulden ...«
    »Wirklich? Um ehrlich zu sein, genau das hatte ich erwartet. Das arme kleine Waisenkind! Ich finde dich äußerst mildtätig, Harriet!«
    »Ich hatte Sarah sehr gern«, erwiderte Harriet kurz. Im gleichen Moment schrie Joanna auf. Auch Cynthia zuckte zusammen. Unerwartet plötzlich war das große Segelschiff aufgetaucht und glitt nun sanft und hoheitsvoll in den Hafen. Es war vielleicht
in Wirklichkeit nicht ganz so strahlend weiß und schön, wie es nun aussah, aber es lag wohl an dem blauen Himmel und der Sonne, die auf dem Wasser glitzerte, daß es so stolz und großartig wirkte. Der Schauer, der alle Zuschauer bei diesem Anblick durchflutete, streifte geradezu spürbar über den Hafen hinweg, wie ein leiser, sehnsüchtiger Seufzer. Für einen Moment fühlte sich jeder mit fernen Ländern verbunden, niemand hätte nicht sekundenlang in der Versuchung geschwebt, einmal alles hinter sich zu lassen und über die Meere zu anderen Welten zu fahren. Auch Viola verdrehte entzückt die Augen.
    »Unbeschreiblich, was ich beim Anblick eines solchen Schiffes empfinde«, murmelte sie. Lord Sheridy, der sich selber nie eine Gefühlsäußerung erlaubte, verzog das Gesicht. Er konnte Viola ohnehin nicht ausstehen und bedauerte die Freundschaft zwischen ihr und Harriet.
    »Wo ist denn Elizabeth?« fragte Joanna, kaum noch fähig, ruhig stehenzubleiben.
    »Du bist so dumm«, sagte Cynthia verächtlich, »sie müssen doch erst eine Brücke machen, vom Ufer zum Schiff, damit die Leute hinausgehen können.«
    »Elizabeth ist bestimmt gleich bei uns«, meinte Harriet, »leider wissen wir nicht, wie sie aussieht. Hoffentlich bemerken wir sie.«
    »Vielleicht sieht sie Sarah ähnlich«, warf Viola ein, »oder wenigstens diesem Henry!«
    Das Schiff lag nun dicht an der Hafenmauer, und die Matrosen beeilten sich, die Landestege auszulegen. An der Reling drängelten sich die Passagiere, beladen mit Koffern und Kisten. Einige winkten, andere strahlten voller Erleichterung, die meisten wirkten zutiefst erschöpft. Endlose Wochen auf See lagen hinter ihnen, ungezählte Meilen über glattem oder aufgewühltem Meer. Fast jeder war irgendwann einmal von der Seekrankheit heimgesucht worden und hatte, sterbenselend, nur noch den Tod herbeigesehnt. Der Anblick Englands, der Anblick von Häusern und Wiesen mußte ihnen allen wie ein Traumbild vorkommen.

    Als die ersten von Bord gingen, verstärkte sich das hastige Gewühl um die Landungsbrücken herum noch. Es schien kaum möglich, irgend jemanden zu erkennen. Harriet begann bereits wieder am ganzen Körper zu zittern. Ihre Blicke jagten am Ufer entlang, aber es war dann doch Joanna, die das fremde Kind zuerst entdeckte. Sie gewahrte plötzlich zwei
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