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Venezianische Verlobung

Venezianische Verlobung

Titel: Venezianische Verlobung
Autoren: Nicolas Remin
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als tödlich. Vermutlich, dachte er, hatte sein unbewusster Wunsch, sie hier zu töten, schlicht und einfach etwas mit Symmetrie zu tun. Hier, wo es angefangen hatte – wo alles angefangen hatte –, sollte es auch enden.
    Er griff mit der rechten Hand nach dem Revolver, stand  auf und trat ins Schlafzimmer. Die Fenster waren geschlossen, aber trotzdem strich hin und wieder ein leiser Lufthauch durch das Zimmer, der die Kerze auf dem Nachttisch zum Flackern brachte und die Gardinen in die Fensteröffnung hineinsaugte. Wenn das geschah, sahen sie aus wie die Segel eines Schiffes bei Flaute, die ihr Bestes gaben und sich dennoch nicht blähten. Eine Gondel passierte die Fenster, gedämpfte Stimmen waren zu hören und zugleich das charakteristische Geräusch, mit dem sich das Ruder in der forcola bewegte. Schließlich erstarb das Geräusch, entrollte sich in der nächtlichen Nebelluft über dem Rio della Verona wie eine unsichtbare Uhrfeder.
    Er trat leise neben das Bett, ging am Kopfende in die  Knie und bewunderte einen Augenblick lang das klare Profil des Mädchens, ihren sinnlichen Mund und ihre langen, dunklen Wimpern. Ihr blondes Haar war nass und schmutzig, trotzdem schimmerte es im Kerzenlicht wie fein versponnenes Gold. Er schob ihr Haar zurück und ließ seine linke Hand – die rechte hielt den Revolver umklammert – über ihren Hals gleiten. Das feine Pulsieren ihrer Halsschlagader verriet ihm, dass ihr Herz noch immer schlug. Nun war es an der Zeit, den letzten Schritt zu unternehmen.
    Vorsichtig, mit einer millimeterfeinen, fast zärtlichen Bewegung – denn es würde leichter sein, sie zu ersticken, wenn sie weiterhin bewusstlos war – zog er das Kissen un ter ihrem Kopf hervor. Er fragte sich, ob es überhaupt notwendig sein würde, ihre Leiche in den Rio della Verona zu werfen. Vielleicht war es weniger riskant, sie einfach in der Wohnung liegen zu lassen.
    Er drückte das Kissen an sich, atmete den fast unmerklichen Geruch des Veilchenparfüms ein, und die Erinnerungen waren auf einmal so intensiv, dass er unwillkürlich die Augen schloss, um sie festzuhalten. Als er sich erhob, spürte er den Schmerz aufglühen wie Kohlenglut bei einem unvermuteten Windstoß. Mein Gott, hatte er sie wirklich tö ten müssen, um sie nicht zu verlieren? Er wusste es nicht.
    Er wusste nur, dass es jetzt keinen Sinn mehr hatte, darüber nachzudenken. Grübelte man zu sehr, wurde man verrückt.
    Insbesondere, wenn der Schmerz, der in einem brannte, die Macht besaß, das vernünftige Denken zu verwischen und selbst die klarsten und säuberlichsten rechten Winkel seltsam schief erscheinen zu lassen.
    Er warf den Revolver auf das Fußende des Bettes, denn  jetzt war es besser, das Kissen mit beiden Händen zu packen. Dann beugte er sich über das Mädchen herab. Ein kurzer Blick auf ihr Gesicht überzeugte ihn davon, dass sie immer noch bewusstlos war. Sie zu ersticken würde nicht länger als drei Minuten dauern.

    Es war ein leises, hechelndes Atmen und die Berührung  einer Hand, die sie aus ihrer Bewusstlosigkeit auftauchen ließ. Die Hand schob ihre Haare zurück, strich langsam über ihre Wange nach unten, sie spürte, wie ihre Haare  zurückfielen und sie am Ohr kitzelten. Dann wanderte die Hand zu ihrem Hals, blieb dort einen Augenblick liegen, bis anschließend etwas Weiches, das nach Veilchen duftete, unter ihrem Kopf hervorgezogen wurde.

    Später würde sie behaupten, sie hätte die Situation sofort erfasst und aus reiner Kaltblütigkeit weder aufgeschrien noch die Augen aufgerissen. In Wahrheit jedoch geschah es nicht aus Kaltblütigkeit, dass sie sich nicht rührte, sondern weil sie immer noch gelähmt war – eingeschlossen in eine Benommenheit, die wie eine dünne Membran zwischen ihr und dem Rest der Welt ausgespannt war. Sie war unfähig, auch nur einen Finger zu rühren, geschweige denn zu schreien. In Wahrheit war sie, als sie wieder zu sich kam, weit davon entfernt, irgendetwas zu begreifen.
    Das Atmen, eben noch ganz nah, entfernte sich jetzt.
    Absätze schlugen mit einem dumpfen Geräusch auf den  Holzfußboden, Dielenbretter knarrten, von irgendwoher  drang Glockengeläut in das Zimmer, und dann – endlich –  durchstieß ihr Verstand die Glocke aus Benommenheit,  unter der sie gelegen hatte. Die erste klare Feststellung, die aus dem Grauschleier ihrer Gedanken aufstieg, war die, dass er sie erwischt hatte, ihr zuvorgekommen war und aus irgendwelchen Gründen beschlossen hatte, sie nicht
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