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Valley - Tal der Wächter

Titel: Valley - Tal der Wächter
Autoren: Jonathan Stroud
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unerwünschte Aufmerksamkeit ein. Schließlich war er Arnkels Zweitältester. Sollte Leif einem Unfall oder einer Krankheit zum Opfer fallen, war Hal der Hoferbe. Das bedeutete, dass er oft im unpassendsten Augenblick daran gehindert wurde, seinen Lieblingsbeschäftigungen nachzugehen. Fürsorgliche Bedienstete hoben ihn immer wieder von der Troldmauer, wenn er schwankend darauf entlangbalancierte, man ließ ihn nicht auf einem umgekippten Trog und mit einer Mistgabel als Ruder über den Gänseteich paddeln, und andauernd holte man ihn gerade vor der schönsten Rauferei mit den älteren, größeren Jungen weg.
    Wenn Letzteres vorkam, wurde er zu seiner Mutter gebracht, die meistens mit Gudny in der großen Halle saß, nähte und dabei die Stammbäume aufsagte.
    »Was ist denn jetzt schon wieder, Hal?«
    »Brusi hat mich beleidigt, Mutter. Ich wollte mich mit ihm prügeln.«
    Ein tiefer Seufzer. »Womit hat er dich denn beleidigt?«
    »Das mag ich nicht sagen. Es eignet sich nicht zur Wiederholung.«
    » Hal...! «, sagte seine Mutter, diesmal in ernsterem, lauteren Ton.
    »Wenn du’s unbedingt wissen willst: Er hat zu Ingrid gesagt, ich wär ein stummelbeiniger Sumpfkobold! Was gibt’s da zu lachen, Gudny?«
    »Ach, nichts. Nur dass Brusis Beschreibung so herrlich zutreffend ist, kleiner Hal. Ich finde das lustig.«
    »Hör zu, Hal«, sagte seine Mutter geduldig, »Brusi ist doppelt so alt und doppelt so groß wie du. Ja, auch wenn er dich gekränkt hat! So etwas musst du einfach überhören. Warum? Weil er dich, wenn du mit ihm Streit anfängst, ungespitzt in den Boden rammt wie einen Zelthering, und das wäre beschämend für einen Nachkommen von Sven.«
    »Wie soll ich denn sonst meine Ehre verteidigen, Mutter? Oder die Ehre derer, die mir nahe stehen? Was soll ich tun, wenn Brusi Gudny eine eingebildete, eitle kleine Sau nennt? Soll ich das auch überhören?«
    Gudny schnaubte und legte ihre Stickerei weg. »Hat Brusi das wirklich gesagt?«
    »Noch nicht. Aber lange kann’s nicht mehr dauern.«
    »Mutter!«
    »Sei nicht so frech, Hal. Um seine Ehre zu verteidigen, braucht man nicht unbedingt Gewalt anzuwenden. Schau dir die Wand an!« Hoch oben über den Richterstühlen waren Svens ehrwürdige, dick mit Staub bepuderte Waffen aufgehängt. »Die Zeiten, als sich ein Mann noch um seiner Ehre willen zum Narren machen musste, sind längst vorbei. Du als Arnkels Sohn musst mit gutem Beispiel vorangehen! Stell dir nur vor, Leif stößt etwas zu. Dann wirst du selbst Schiedsherr, als... als wievielter, der in gerader Linie von unserem Urahn abstammt, Gudny?«
    »Als achtzehnter«, sagte Gudny prompt und setzte eine selbstgefällige Miene auf. Hal schnitt ihr eine Grimasse.
    »Braves Mädchen. Als achtzehnter in Folge, nach Arnkel, Thorir, Flosi und allen anderen davor, und das waren alles bedeutende Männer. Was deinen Vater betrifft, so ist er es noch.Willst du denn nicht werden wie er, Hal?«
    Hal zuckte die Achseln. »Er bestellt seine Rübenfelder bestimmt fabelhaft und wendet den Misthaufen mit überragender Geschicklichkeit. Aber ehrlich gesagt finde ich sein Vorbild nicht besonders nacheifernswert. Mir wäre jemand wie...« Er stockte.
    Gudny sah von ihrer Stickerei auf. »... wie Onkel Brodir lieber, stimmt’s, Hal?«, ergänzte sie.
    Da schoss Hals Mutter das Blut ins Gesicht und sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Jetzt reicht’s aber! Kein Wort mehr, Gudny! Und du verziehst dich lieber, Hal! Wenn du noch mehr Scherereien machst, sage ich es deinem Vater und der haut dir den Hintern voll.«

    Hal und Gudny hatten schon als kleine Kinder festgestellt, dass sie nur ihren Onkel Brodir zu erwähnen brauchten, wenn sie ihre Mutter aus der Fassung bringen wollten. Sie, die als Schiedsherrin mit den unverschämtesten Mördern und Dieben gleichmütig umgehen konnte, fand schon die Erwähnung seines Namens geschmacklos und unerträglich. Ihr Schwager war ein rotes Tuch für sie, auch wenn sie nie über die Gründe dafür sprach.
    Was Hal betraf, so machte die eigentümliche Macht, die sein Onkel besaß, diesen nur noch interessanter. Hals Begeisterung für ihn hatte Brodir schon ausgelöst, als der noch ganz klein war – und zwar mit seinem Bart. Den ließ Brodir wachsen, wie er wollte. Hals Vater beispielsweise beugte sich regelmäßig in einem feierlichen Zeremoniell über einen Zuber mit heißem Wasser, blinzelte durch den Dampf in eine blank polierte Metallscheibe und rasierte sich gründlich
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