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v204525

v204525

Titel: v204525
Autoren: Jean Fellber
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Wasser, in dem Zitronenspalten schwammen. Die ersten zwei Tage aßen wir zu zweit, am Sonntag zu dritt. Ihre Tochter Lou hatte Semesterferien und war nach Hause zurückgekehrt. Lou! Als ich sie sah, veränderte sich die Luft, wurde schwer und sinnlich. Ich schätzte sie auf Mitte Zwanzig. Sie war eine lebendige Fotografie der Schönheit. Ich weiß nicht, ob sie im eigentlichen Sinn schön war. Vielleicht war ihr Blick ein wenig zu grün, ihre Haare zu schwarz, ihr Busen zu groß, ihr Hintern etwas zu dick und ihre Lippen etwas zu voll. Es war, als hätte die Natur alles, was Sinnlichkeit versprach, an ihr betonen wollen. Maga stellte uns kurz vor, und wir setzten uns zum Essen hin. Lou erzählte, Maga erzählte, ich aß, hörte zu, versuchte, mich auf die Mutter zu konzentrieren, um mich von der Verwirrung, die ihre Tochter bei mir auslöste, abzulenken.
    »Warum heiratest du nicht wieder?«, fragte Lou ihre Mutter.
    »Noch mal einen Mann im Haus? Nein.«
    »Du hast doch schon einen hier.« Lou sah mich an und lachte.
    »Lou, was soll der Herr von mir denken?«
    »Weiß er, wie verrückt du die Männer machst?«
    »Hör auf. Ich bin eine alte Frau.«
    »Und die jungen Männer pfeifen dir hinterher.«
    »Und ich pfeife aus dem letzten Loch. Entschuldigen Sie die Reden meiner Tochter, Herr André. Sie zieht mich gerne auf.« Sie erhob sich. » Lou, machst du den Abwasch? Ich lege mich schlafen.«
    »Ja, ja. Du kneifst. Dann nehme ich ihn mir eben. Wer nicht will, der hat schon.«
    Maga verabschiedete sich mit einer wegwerfenden Handbewegung, Lou sammelte die Teller ein, brachte sie in die Küche und kam mit einer Flasche Rum zurück.
    »Trinken Sie noch einen mit mir, Herr André? Ich habe viele Fragen an Sie.«
    »Gerne«, antwortete ich.
    »Man erzählt im Dorf, dass Sie ein Schriftsteller sind.«
    »Nein. Ich habe nur einen Gedichtband veröffentlicht als ich 20 war«, sagte ich.
    »Liebesgedichte?«
    »Pablo Neruda hatte mich vergiftet. Ich wollte so schreiben und die Frauen so bezaubern können wie er.«
    »Ich würde die Gedichte gerne lesen.«
    »Der Band ist seit Jahren vergriffen, und ich selbst besitze keine Ausgabe mehr. Mein Exemplar habe ich mit alten Zeitungen zusammen weggeworfen. In der Hauptstadtbibliothek steht noch ein Buch, wahrscheinlich das letzte. Hoffentlich das letzte.«
    »Aber Sie können bestimmt ein Gedicht auswendig.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Es ist zu lange her.«
    »Dann dichten Sie ein neues Liebesgedicht.«
    »Ich schreibe keine Gedichte mehr.«
    »Auch nicht für mich?« Lou lächelte.
    Ich lachte. »Vielleicht«, sagte ich, als Lou uns Rum in die Gläser goss.
    »Was haben Sie gemacht, bevor Sie hierher kamen?« fragte sie.
    »Dies und das. Ich habe mich mit verschiedenen Arbeiten durchgeschlagen. Was machen Sie?«
    »Hat Ihnen das Mama nicht schon erzählt? Ich studiere Politologie.«
    »Was wollen Sie später werden? Politikerin oder gar Präsidentin?«
    »Ach was. Ich bin eine überzeugte Anarchistin.« Sie steckte sich eine Zigarette an, blies den Rauch in meine Richtung und rief: »Lang lebe die Revolution!« Dann streckte sie mir die Zunge heraus.
    »Sie wollen das System ändern?«
    »Nein, ich will es abschaffen. Systeme sind etwas für Pfarrer und Idioten, für Leute, die nicht verstehen, was Freiheit ist. Die Menschen wollen Sklaven sein, es ist ihnen egal, wie ihr Herr heißt. Gott oder Kapital oder Macht. Glauben Sie an Systeme?«
    »Nein. Aber das beruht auf Gegenseitigkeit.«
    Lou lachte, dann beugte sie sich vor und schaute mir in die Augen.
    »Finden Sie mich eigentlich schön?«
    »Ich habe nie eine schönere Frau gesehen.«
    »Machen Sie immer solche Komplimente? Sie haben übrigens wunderschöne Augen. Haben Sie eine Freundin?«
    »Nein, nicht mehr.«
    »Warum nicht?«
    »Das ist eine lange Geschichte.«
    »Ich mag lange Geschichten.«
    »Auch wenn sie langweilig sind?«
    »Meine Mutter erzählt mir immer wieder die gleichen Geschichten, seit Jahren, aber ich werde nicht müde, ihr zuzuhören. Hat Sie Ihnen schon welche erzählt, aus ihrer Zeit beim Zirkus? Ich hätte gerne den Zirkus gesehen – aber Maga hat es mir verboten; warum, weiß ich bis heute nicht. Er war hier ganz in der Nähe, als ich sechs oder sieben Jahre alt war. Einige Jahre später hat sich der Zirkus aufgelöst. Ich dachte früher, dass Julio mein Vater sei. Erst als ich in die Schule kam, erfuhr ich, dass er es nicht ist. Wissen Sie, wir sind sehr stolz. Gitanos. Wir haben den Flamenco
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