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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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Anwesenheit all der Bezugspersonen, die zufällig?, bestimmt aber als Störfaktor da sind, trägt auch nicht gerade zu meinem Wohlbefinden bei. Worauf warte ich? Da beugt sich Brigitte aus dem Fenster und murmelt »da kommt sie«, und wirklich erkenne ich in einem heranfahrenden Wagen die sehnlich Erwartete, sie liegt wie Ophelia darin. Rettung. Und etwas später kommt sie auf mich zu, eine zärtliche und entschiedene Anteilnahme im Gesicht. Ein liebendes oder liebevolles Mitwissen. Sie ist auch alsogleich im Bilde über meinen Zustand und das allgemeine Chaos, wie ich merke, sie führt mich aus den Verwicklungen hinaus und in unser Schlafgemach, ein Matratzenlager mit herumliegenden Kleidern und Effekten, und ich weiß, sie wird mich, obwohl sie beunruhigt ist, in die Arme nehmen und mit ihrem schönen Leib beschwichtigen und in Sicherheit wiegen. Ich werde in ihr wieder zu mir kommen. Was ist das Durcheinander, was ist die ganze Auflösung, was ist die Drohung? Und in der Liebe ist, wenigstens vorübergehend, Sicherheit. Geborgenheit. Frieden.
    Ein anderer Traum zeigte auch wieder eine Art Fluchthaus oder eine Durchzugsstation, es gibt viele Treppen, und ich bin in einer heiklen Lage, verfolgt? jedenfalls in Erwartung einer unliebsamen Konfrontation und Auseinandersetzung, irgendwie vor der Bewährung oder Stunde der Wahrheit. Und da steigen herrliche Weibspersonen in aufreizendem Unterzeug die Treppen hoch, es sind nicht Huren, es sind Gottesgeschenke, wenigstens für einen aufgewühlten Mann wie mich, sie steigen die Treppen selbstbewußt wie Herrinnen des Hauses, und dennoch lassen sie sich von mir anfassen, ich greife nach ihrem Fleisch, ihrem Gesäß, den Hüften, ich wühle mich in sie im erstbesten Zimmer, sie sind alles, wonach ich mich sehne, sie empfangen mich auch aufs schönste in ihrem Fleische, sie sind Hausgenossinnen, sie sind meine Gastgeberinnen, sie geben mir Glück und Lust, sie sind Verbündete, und ich bin vorübergehend gerettet. Ein Glückspilz in meinem Ungemach. Wieviel ungestilltes Liebesverlangen, wieviel Entbehren verraten diese Träume.
     
    Wenn ich an die Berner Gänge durch die Kindheit zurückdenke, dann wird mir bewußt, wie ich verschlungene Pfade und geheimnisvolle Nester zum Anzünden meines jugendlichen Schönheitsverlangens aufsuchte; und wie ich mich, von Schönheit vergiftet, in Phantasievorstellungen entführen ließ, in welchen eine Art Poetenleben avant la lettre von mir Besitz ergriff, das im Unterschied zu den häuslichen Gegebenheiten die Vorausnahme einer Selbst- und Welterfindung und insofern der Keimling des schöpferischen Vermögens war. Diese Gänge waren nicht nur Zufluchten, sie waren wahre Exerzitien.
    Interessant ist der Kontrast zwischen dem an sich bescheidenen Augenfutter oder Wirklichkeitsmaterial und der poetischen Vision. Welch ein Auseinanderklaffen. Aus dem Auseinanderklaffen von Gegebenheit und poetischem Erleben ermißt sich der Höhenflug. In den kindlichen Exerzitien praktizierte ich das Dichten. Die hellen Rosen streichen / an mein Gewand und bleichen / ein Weilchen noch / am Gartenhag. Es war gelebte oder besser gesagt erstrittene reine Poesie. Ich habe es im »Revier des Falken« und in den »Gärten des Glücks« festgehalten. Hier ist der Schlüssel zu allem.
     
    Nur das Wort gewordene oder besser Poesie gewordene Leben ist lebenswertes Leben. Das war die Losung.
    Handke beschreibt die Wege zum Heil. Seine Bücher sind die Verwandlungen, Häutungen, eine Art Buddhasche Wanderung. Meine Bücher umkreisen die Erleuchtung auf dem Dunkel des Abgrunds. Er holt episch aus und ist unerschöpflich und unaufhaltsam in seiner künstlerischen Produktion. Ich belagere das Leben lang den einen Punkt. Bei beiden ist die Spannweite zwischen Abgrund und Rettung. Die Unannehmbarkeit der seichten Sinnlosigkeit. Bei ihm wird das Suchen zwangsläufig zum Erzählen. Bei mir das wartende Belagern zur Beschwörung. Er kennt die Fabel. Ich komprimiere oder umkreise den poetischen Punkt, vielleicht münde ich in das Lied.
    Gestern in dem Zyklus »Un siècle d’ écrivains« einen Film über Perec gesehen. Handke tendiert zum Heiligen oder Erlöser. Ich zum Künstler. Mein Heil ist der Künstler. Sieg nur in der Kunst. Er hat Gefolge und Anhänger, Jünger. Nachahmer? Ich habe Liebhaber.
    Sowohl mit Handke wie mit Perec verbindet mich Gemeinsames. Mit Perec der Ausgangspunkt des absoluten Fremdlings, ich nenne es meine Niemandszugehörigkeit. Und aus diesem Loch
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