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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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werde ich, in Begleitung von Hörning, wieder in Berlin auftauchen, neben Köln und Bamberg. Berlin gehört zu den Pferdewechselstationen der Schriftsteller auf Lesetour. Nur den Norbert Gstrein vermisse ich, er scheint abhanden gekommen.
     
    Die Mobilität nach dem verkrachten Sommer begann mit der Reise nach Tremona zur Bestattung von Gerardo Zanetti. Fuhr nach Zürich und von da zusammen mit Willy Spiller durch den Gotthard nach Lugano. Die mehrmalige Ansicht der Kirche von Wassen wie auf Schulausflügen, die »lauen Lüfte« jenseits der Alpen. In Lugano auf dem Bahnhof stieg kurz ein Schwall von Erinnerungen aus Pantrovà-Carona-Zeiten auf. Wohltuend und zuverlässig die altbewährte Freundschaft mit Willy, die Busfahrt von Mendrisio nach Tremona vertraut. Im Haus von Zanetti/Zanusio die vielen Freunde aus der Schweizer Zeit, vorab Rothschild und Bigna, Dieter und Ingeborg Bachmann samt Plinio, Peter Rüedi und Sibylle Heusser, der Galerist Stummer (mit Stumpen, nein Zigarre) etc., der Garten Ort der Trauerfeier, Pia und die Söhne Luca und Livio und die vietnamesische Adoptivtochter Nina eine schwankende Trauergruppe, der Schmerz, die Fassungslosigkeit tief spürbar bei allen, er ist wirklich »dahingerafft worden«, wie es heißt. Nicht nur darum, weil die Hinterbliebenen zusammenrücken, empfinde ich Zugehörigkeitsgefühle; Zanusio und Pia gehörten in meine frühe Zürcher Zeit (sechziger Jahre), ein junges Reporterpaar damals, linksengagiert, Kreis Zürcher Woche , Höltschi hat sie mit mir zusammengebracht, er ist auch längst tot. Und dann haben die Zanettis mir und Marianne ihre Wohnung an der Therberten Street überlassen, es war der Anfang der Londoner Aufenthalte. Und von Serrazzano kommend haben später Odile und ich bei ihnen in Tremona Station gemacht, auf dem Weg nach Zürich zwecks Verkauf von Brotarbeiten für das Magazin Tagesanzeiger ; und wenn ich in Carona Einsitz nahm oder als ich in Albisettis Haus am Langensee war, haben wir uns jeweilen getroffen oder gesehen. Alte Zeiten. Seine Asche wurde im eigenen Garten in ein Loch gestreut und in die Asche ein Nußbaum gepflanzt.
    In Zürich anderntags die Aufgeräumtheit, die »zwinglianische« Sauberkeit rund um den Pfauen als schön oder anrührend empfunden und einen an Luxusferien gemahnenden Komfort und Lebensstil, auffällig; und als ich von Willys Wohnung an der Florhofgasse zum Kunsthaus schlenderte, wo ich im Café auf dem Platz, wo Robert Müllers Betonplastik steht, verabredet war, kreuzte mich eine Tochter aus gutem Hause, hätte man einst gesagt, wohl Kantonsschülerin oder Gymnasiastin, und von der Passantin erreichte mich – der Hauch einer jenem Lebensalter eigenen Frische, es war einfach Jugend, ein Unbeschriebensein, so etwas. Ich war betört. Hinterher noch Dschingis gesehen und mit Elisabeth Plahutnik im Restaurant Kropf getafelt und geredet fast wie in alten Zeiten. Ob das nostalgisch tönt? Ich war nach der langen Sommerflaute und -Niedergedrücktheit offenbar endlich wieder am Aufwachen, am Zu-Leben-Kommen, wieder da.
     
    Zur Metro, das heißt zu dem spezifischen Geruch in dieser Unterwelt, dem lieben Gedärm, wollte ich vermerken:
    Die Luft in der Metro ist ein Mischling. O ja, es ist nicht einfach der saure, der faule Atem, der faulige Mundgeruch des Schlunds, es ist eine herrliche Métissage, gesättigt von allen Ausscheidungen der buntgewürfeltsten Menschheit, wie auch die Töne herrenlos hallen, verirrte Tonseelen nannte ich sie in Bezug auf die Musikanten; ich fragte mich immer, woher das befreiende und beseligende Gefühl herrühre, das ich in der Metro meist empfinde, es ist ja nicht einfach das Unterwegssein, es ist anders als auf Bahnhöfen, vielleicht weil hier unten alle Unterschiede der Klassen, Herkommen, Hautfarben, Besitzverhältnisse, Intelligenzgrade usw. wie ausgelöscht oder aufgehoben erscheinen, dafür die große Schicksalsgemeinschaft, und das hat etwas Ansteckendes, Befreiendes, woher kommst du, wohin gehst du … solche Fragen sind unten (im Unterirdischen) belanglos, es ist auch nicht einfach das TREIBEN, das gibt es auch auf den Straßen, es ist viel existentieller, ein Ausgespucktsein, die menschliche Kondition an sich, pure Existenz, vielleicht Würde. Ich weiß es nicht.

    15. September 2000, Paris
     
    Rom
     
    Koffer? Erinnere mich, in Rom – es ist jetzt vierzig Jahre her, und ich komme darauf zu sprechen, weil ich eben meine Notizen zum Vortrag über meine Romerfahrung für den im
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