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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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denkbaren Erzählstrategien, Vokabularien, Sprachhaltungen, die wiederum ganze Legionen minderer Schriftsteller inspiriert haben. Die Anlehnung an die Odyssee scheint mir beim Lesen nicht weiter ergiebig. Am verrücktesten dünkt mich, wie Joyce seinen Stoff aus den Wolkenballungen des Spintisierens immer wieder auf den Boden der Dubliner Realität und Humorigkeit herunterholt.

    7. September 2000, Charenton
     
    Nach überaus langer Atelierabwesenheit endlich wieder in der Klause in Charenton, wo ich so wenig war (um vom Arbeiten ganz zu schweigen) und jetzt eigentlich nur eben hergekommen bin, nachdem ich Igor zum Collège (Francs-Bourgeois) an der Rue Saint-Antoine gebracht habe, um nach dem Rechten zu sehen und den Abbruch dieser Bleibe ins Auge zu fassen, den Abbruch dieser Zelte: Ich habe jetzt ja ein wunderbares und definitives Schreib- und Wohndomizil an einem Hang der Butte Montmartre in Sicht. Der Umzug dürfte in weniger als einem Monat stattfinden.
    Die Sommerfinsternis war dieses Jahr besonders gravierend und depressiv, zudem Odile mit einem gebrochenen Fußknöchelchen immobil und mehr oder weniger an die Liege gefesselt. Zwei Gefangene in ihrer jeweiligen Fesselung und Niedergedrücktheit. Igor ferienabwesend: in Rothéneuf/Saint-Malo, Bern, Biarritz und anderswo. Nur ganz zuletzt war ich mit ihm zusammen in Katalonien, Nähe Gerona und Figueras, bei Louis (Louison) Jent. Sind im Talgo in einer Zweier-Schlafkabine über Nacht dort hingefahren. Die Jentsche Besitzung ein Architektur gewordener Traum, ein Gatsby-Traum. Er hat auf einem riesigen Terrain, einem Ölberg, nach eigenen Plänen und Zeichnungen ein absurd schönes Riesenhaus erbaut, wo er als Gefangener seines Großmachttraums und als Mehrsterne-Restaurant-Besitzer, hauptsächlich aber als halbprofessioneller Börsenspekulant und nun neuerdings wieder als Romanschreiber residiert. Er ist fünfundsechzig und anläßlich meines Geburtstagsfestes in Zürich wieder in meiner Nähe aufgetaucht, nachdem wir jahrzehntelang den Kontakt verloren hatten. In meiner Nach- Canto -Zürcher Zeit, als wir jung und arrogant waren, gehörte er zu meinen nächsten Kameraden. Es war die Zeit meiner Trennung von Brigitte. Von Spanien kaum Eindrücke gehabt, bis auf die herrliche Sprache und die karge, fast märtyrerkarge rötliche Landschaft.
    Danach schnell in Berlin – Schweizer Literaturnacht im Literarischen Colloquium am Wannsee –, wo ich zuletzt zur Première meines Journals und danach zu einer Lesung aus Hund (im Literaturhaus) gewesen war. Die Berliner Beziehung ist aber viel älter und reichhaltiger, wenn ich an die zwei längeren Aufenthalte als Gast des DAAD (teils zusammen mit Odile) zu Beginn der achtziger Jahre denke, mit Wohnungen in Charlottenburg und Grunewald. Auch diesmal durchaus mit Sympathie reagiert auf die ruhigen, irgendwie waldigen langen S-Bahn-Fahrten und alles, was sie aufwühlen zwischen Fontane-Vergangenheit und Nazi- bzw. Kriegsgrusel. Abgesehen von den genannten Vorstellungshöfen oder Assoziationen (zu welchen natürlich auch die Mauer und die jenseitige DDR , das zwischen reich und arm, rückständig und freiheitlich-konsumliberale Kontrastverhältnis gehören) … Und neu natürlich die wiedererstandene Ausdehnung oder Komplettierung nach dem Mauerfall mitsamt der modernen Bauwut und Weltstadtgier, was ich auf langen Besichtigungsgängen zusammen mit Otto Marchi anderntags konstatieren konnte, welch ein euphorischer Nachholboom. Bei meinen Aufenthalten in den Achtzigern waren Kreuzberg und das Charlottenburg meines Freundes Dieter Hildebrandt, das Radio und die komfortablen Seitenstraßen des unteren Ku’damms nebst Grunewald mein Revier gewesen. Damals war der Besuch in Ostberlin ein prickelndes Wagnis.
    Ja, ich habe Erinnerungen, Lebens- und Alltagserinnerungen in Berlin und solche, die ich mit Odile teile. Damals fuhren wir den alten Volvo. Und ich grübelte an meinem Jahr der Liebe . Jetzt am Wannsee mit dem jungen Peter Weber und einer Schar von Schweizern, darunter Zschokke und Ruth Schweikert gezecht und getratscht, es war ganz amüsant. Ich bin jetzt der Alte und hoffentlich kein Fossil für sie. Bei meinem ersten Einsitz im Haus am Wannsee anno 62 anläßlich der Tagung der Gruppe 47 war ich dreißig, also jung wie sie, erfolgshungrig, despektierlich etc., das Leben rollt eben in rasender Schnelle ab und vorbei. Bin erstaunlicherweise in Berlin immer frohgemut und ohne meinen Deutschen-Komplex. In diesem Monat noch
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