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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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Kindheitszeiten, dem einstigen Kuscheltier. Das könnte auch eine Note Humor einbringen in die ganze Schwarzmalerei.
     
    Ich gehe von dem Bild des abgestellten Koffers in der Tantenwohnung aus, dem eigenen Packen. Ich bin versucht, ihn als »mein Herz« anzusehen. Das aus dem Leibe gerissene Herz? Nicht das Herz, ich bin aus meinen bisherigen Umständen und Sicherheiten, vor allem Geborgenheiten verstoßen worden. Insofern wäre das Gepäckstück oder der PACKEN eine Projektion meiner Angst.
    Und da ist die Tantenwohnung, die ich von Besuchen kenne, nun aber als meine Bleibe zu betrachten habe. Alles atmet sie. Ich stehe da und wage mich nicht zu regen. Ein Dieb, ein Eindringling, der sich fremdes Gut, wenn nicht fremdes Leben anzueignen im Begriff steht. Welch eine Ungemütlichkeit.
    Und nun sollte man Fuß fassen und leben.
    In fremden Kleidern gehen?
    Die kleine Exposition ist der Prototyp von Ausgestoßensein, aufgezwungenem Neuanfang, Befremden und Fremde. Es ist im Grunde die gleiche Situation, die Stolz bei seiner Ankunft im Glashüttenhof vorfindet und empfindet. In seinem Fall ein Ausgeworfensein, das zu keinem Fußfassen führt.
    Im Unterschied zu damals ist der Pariser Ankömmling kein junger Lebensanwärter, sondern ein mittelalterlicher Mann, der zwei Ehen und allerlei Erfahrungen hinter sich hat und in der Tantenwohnung von neuem anfangen soll. Ein Flüchtling. Ich spreche von dem abgestellten Packen als »mein Herz«. Nun, mein Herz ist nicht einfach gebrochen – aufgrund der Scheidung, eines eklatanten Liebesmangels, einer Müdigkeit und Erschöpfung, einer tiefen Ungeschützt-, Ungeborgenheit, eines totalen Ausgesetztseins, von Weh und Angst … –, sondern angefochten. Doch ist da auch ein Weckerchen Mut und Lebensaussicht, ein Restchen HOFFNUNG, das in dem Packen pocht.
    Die Tantenwohnung eine Falle wie der Glashüttenhof weiland. Doch jetzt heißt es auch: alles auf eine Karte setzen. Der AUSWANDERER. Ich will ja um alles nicht die alten Themen neu aufwärmen, sondern einen neuen Schwerpunkt einbringen. Der Gesichtspunkt DER AUSWANDERER oder MUT der Verzweiflung müßte einen neuen Akzent setzen. Wobei die Gefahr eines Derivats vom Jahr der Liebe besteht. Das darf es auch nicht werden. Wo könnte der neue Aufhänger stecken? Mit dem Hund ist ja das Leben als reine Imagination – »gib mir genügend Einbildung, zum Weitergehen« –, also, wie Pierre Lepape in Le Monde sagt, die Abnabelung vom Autobiographischen bereits erreicht; und Anklänge sowohl an Stolz wie an Das Jahr der Liebe würden hinter diese erreichte Position zurückfallen und nach Aufgewärmtem schmecken. Wo zum Teufel könnte der neue Aspekt, Ausblick, Akzent, Einfall liegen? Im Erfinderischen, im rein Fiktionalen?

    7. Februar 2000, Paris
     
    Zurück aus Rom
     
    Gestern, Sonntagvormittag, mit Hans Christoph von Tavel, der bis dahin wegen Grippe nicht erreichbar war, zum Frühstücken an die Via Veneto gegangen und hinterher im Institut zu einem Abschiedsblick auf den Turm des Palazzo Maraini gestiegen und bei herrlich sonnigem Licht die Stadt eingeatmet wie damals vor vierzig Jahren. Sie lag ausgebreitet mit all den lagernden Leibern und Kuppeln in diesem Licht, Römerlicht, südlichen Licht, Meereslicht. Und in diesem Licht, in dieser lichten Bläue lag alles ausgebreitet in den ockrigen Tönen, in einer leichten Leibhaftigkeit, bröcklig leicht wie Tongefäß und ebenso inschriftlich klar, gleichzeitig ockrige Gravur und dreidimensionale Plastizität und keine Spur von Schummrigkeit, es war antikische Klarheit, Frühzeit und Vollendung, ganz Hiersein und ganz Entrückung, und es lag ein Hallen oder Klingen in dieser Leiberstadt, etwas vom offenen Markt des Lebens, das Licht bis zur Erde reichend, es war Form und nicht Impression. Ja, und wenn man darin ist, muß man den scharfen Schatten mitdenken wie auf einem Bild von de Chirico, einen harten Schlagschatten wie von der Sonnenuhr. Und mitdenken muß man die paar Palmen und anderen gestalthaften grünen Pflanzen zum Mauerstein und ein frühzeitliches Glücksgefühl. Natürlich scharte sich vor Kirchenportalen das Pilgervolk, aber gleichzeitig war das Christentum austauschbar mit Gladiatorenzirkus. Und ich stand neben von Tavel, mit dem mich die gemeinsame Studienzeit in Bern verbindet, auf dem Turm und diesem Licht und schaute – ja, wohin eigentlich? In mein Leben von damals? In dieses Anfangslicht? In jene brennend junge Lebenserwartung, der schon wie ein Schlagschatten
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