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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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Außenseiterbild Robert Walsers in Frage. Diese Abfärbung. Das Antibürgerliche gehört hochrangig zu diesem Status, aber ebenso die Abgrenzung gegen das Proletarische. Mein Künstler war jedenfalls kein Barbar, sondern ein höher gestelltes Wesen kraft seiner schöpferischen Ausstattung und Macht, er durfte arm sein wie Walser und van Gogh, doch war er nicht nur reich, sondern überragend an geistigen Kräften und Gaben, auch als Verkörperung des Besten an kultureller Inkarnation. Er war ein selbsternannter Regent, gehorchte eigenen Gesetzen, und er war ein Kämpfer wie ein Thomas Wolfe oder Hemingway, auch ein unbürgerlicher, nur sich selbst verantwortlicher Abenteurer. Rimbaud? Das Außenseitertum ein Adelstitel. Seine Verbündeten waren die Gauner und Prostituierten, und hier schillert das Bild in die Zonen von Henry Miller und James Joyce hinüber, mein Künstler war ja im Grunde ein Revolutionär. Nur das Normalverbrauchertum lieferte die Feinde; und natürlich die verknöcherten scheinheiligen verlogenen und lebensfeindlichen Konservativen, die Statthalter und Verteidiger des schal gewordenen Besitzbürgertums. Wenn ich zu diesen Beispielen greife, dann, um mich gegen die Ideologiefürchtigen abzusetzen, auch wohl gegen die engagierte Sartre-Färbung. Jedenfalls war ich unpolitisch, für Marxismus nicht unempfänglich, sehr empfänglich für Orwell, die Spanischen-Bürgerkriegs-Kämpfer.
    Und nun verwandelte sich gewissermaßen über Nacht via Jugendbewegung und Popkultur das ganze gesellschaftliche Bild, und was gestern noch als halbdebiler Lümmel durch die Straßen getrottelt war, lief nun als bärtiger struppiger Hippie und Anarchist und Popartist und liebestoller, alle Regeln des Anstands verhöhnender Revolutionär und Antivietnamheld und Beatle durch die Gegend, das Losungswort war schöpferisch, ein jeder schöpferisch, ein jeder ein Künstler und Kämpfer, eine karnevalsreife Fauna von Verkleideten und Aufmüpfigen, verbrüdert, in den Parolen und Melodien der Popsänger Zuckenden, eine Welt potentieller Barrikadenkämpfer beherrschte die Szene, alle freiheitstrunken, dichtend und kunstend, nun war diese Jugend an der Macht. Und das heilige Emblem war die Gitarre, und das ganze Jungvolk strömte in die gigantischen Messen der Popkonzerte, wo es sich speisen und bis zur Ekstase durchtränken, also wohl mobilisieren ließ, und die Messepriester, die neuen Helden, waren ihrerseits widerliche Schamanen, Erweckungsprediger, außer Rand und Band geratene Barrikadenheuler, in Aufmachung und Gebärdung schlicht ekelerregend und letztlich unbegreiflich. Eine wahre Volksbewegung, eine neue Massenkultur, eine neue Erscheinungsform von Demokratie und Freiheit der Expression, die Phantasie an der Macht, und der unerschöpfliche Fundus hieß Kreativität. Kreativität als Massenerscheinung. Und wo gehörte ich nun hin mit meinem elitären Anspruch und revolutionären Monopol? Ich war zutiefst verunsichert, mehr als geschockt: in meinen Grundfesten erschüttert. Übermannt. Für mich waren nicht einfach Poesie und Musik an die Macht gekommen, sondern zusammen mit dieser ganzen Kreativität auch das Obszöne schlechthin. Für mich war es eine Entwertung meiner ganzen bis dahin gültigen Glaubensartikel.
    Natürlich merkte ich gleichzeitig, daß diese neue Popkultur viel Positives entfesselte, unter anderem Widerstand gegen Krieg und Repression und die mörderischen Aspekte des Kapitalismus, eines Imperialismus, nur konnte ich mich hauptsächlich aus ästhetischen Gründen und dann Gründen der Überheblichkeit mit dieser Volksbewegung nicht ohne weiteres verbünden, ich wurde einmal mehr an den Rand gedrängt, natürlich auch als Schriftsteller und in allem, was mein Wertesystem anbelangte. Ich las zwar aufmerksam und teils wirklich beeindruckt Norman Mailers Heere aus der Nacht , den Marsch auf Washington, ich las die neuen Autoren. Ich begann sachte meine eigenen Vorstellungen zu hinterfragen, begann mit Selbstinfragestellung, ließ mich – in Maßen – aufstören, vor allem 1969 dann, als ich an der ETH Gastdozent war und mitten in dieser Jugendbewegung steckte und mehr als nur gezwungen war, Farbe zu bekennen.
    Und dabei schrieb ich im stillen, wenn nicht im Vergessenen mein Buch Im Hause enden die Geschichten zu Ende. Und danach Untertauchen und Stolz .
    Aus den Hippies sind Yuppies geworden, aus den Schlagern der Rolling Stones und Beatles Evergreens.
    Natürlich habe ich nicht abzurücken oder gar mich zu
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