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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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auf der Sonnenuhr die Grenze gezogen war? In einen hellsichtigen Traum? Nun, von Paris kommend, kam mir vor, als sei ich mindestens so weit weg wie in Ägypten. Und wie schön und genau wie einst die Cafébar, wo man bestellt und dann an der Kasse zahlt und den Schein mit dem Trinkgeld auf die Theke legt und dann zusammen mit dem unvergleichlichen Kaffee in dem Täßchen das Tramezzino oder Süßgebäck in der Papierserviette in Empfang nimmt, und es kostet mit einem das Behagen übersteigenden Glück, als wäre es die Hostie des Lebens. Und alle Gäste stehen herum und laut gehen die Gesprächsfetzen durch die Luft, und auch hier ist es die Halle des Lebens, und draußen einfach die Schönheit.
    Aber als ich am Vortag durch die schlingernden Gäßchen zwischen Pantheon und Piazza Colonna und Navona und Campo de’ Fiori und Palazzo Farnese, Via Giulia und Trastevere über den wirklich buckligen Pflasterstein lief und bedrängt von den Höhlen der Handwerkerbuden und Geschäfte und Motorrädern und Autos herumlief, ging ich tief im Steine und irgendwie nicht nur bis zu den Knien, sondern bis zu den Hüften im Steine, in einem Erddunkel jetzt, damals sagte ich »im Stall der Stadt«. Und wären die vielen Kirchen mit der herrlichen Ordnung der architektonischen Elemente und dem Andachtsraum, den die Treppen schaffen, nicht; wäre nicht überall wieder Prunk von Palästen, man ginge wirklich wie in einem Erdreich oder Bergwerk. Etruskisch.
    Am ersten Abend blindlings über die Via Capo le Case und Via della Mercede in Richtung San Silvestro in einer Seitengasse in einem Ristorante gelandet, wo ich auch damals schon hätte sein können. Und erwartete wie in einem Theater die Speisen, das heißt den Auftritt des Kellners mit den herrlichen Überraschungen, erwartete etwas, das mehr ist als ein Vergnügen und Labsal, es ist die Speisung wie beim Abendmahl, man wartet wunderwärtig und andächtig und harrt der Labsal, ganz anders als in Paris, archaischer?, nun, ernster. Und dabei schaute ich einem Paar zu, das sich unterhielt und dies immer noch wie in Mamma Roma , und dabei mußte ich auf einmal an Courbets »L’origine du monde« denken, der so wunderbar freigelegten Vaginapartie zwischen den gespreizten Schenkeln, wunderbar realistisch, dabei aber in der Grimasse sphinxisch wie das älteste Welträtsel, und jetzt dachte ich daran, daß diese staunenmachende weibliche Partie, die ja nicht nur Henry Miller zum Grübeln gebracht hat, nicht nur der Eingang zur Lust, sondern das Tor zur Welt ist; und ich dachte, daß diese Sphinx immer mitdenkt bei den Frauen, auch wenn sie sich so mit einem Mann über Nichtigkeiten unterhalten bei Tische, und nun sah ich dem redenden Paar ganz anders zu, und dann kamen die Speisen, und die Teigwaren waren so sehr al dente, daß sie mir gewissermaßen roh erschienen, auch das hatte ich vergessen, und ich aß und trank und sann und mochte nicht aufstehen. Und dann beim Heimgehen, als ich die Via degli Artisti hochstieg und an der Kirche Sant’Isidoro degli Irlandesi vorbeikam, es war ausgestorben hier zu dieser Stunde, da noch die Birreria, in die ich nie gegangen war, dann die hohe Stützmauer, die schon zum Istituto gehört, die Stützmauer des Gartens der Villa, und vor bis zur Via Ludovisi, und nun überkam mich doch tatsächlich die Weltverlorenheit von damals vor vierzig Jahren, Weltverlorenheit wie Schuldhaftigkeit wie Bettlertum, als ginge ich ohne Existenzberechtigung, ein armer Hund; und damals mußte ich durch diese kleine, eher einem Fenster als einem Tor gleichende Tür wie durch ein Schlupfloch in die povere Stipendiatenabsteige im Nebengebäude mich duckend verschwinden, wo mich einfach das Nichts empfing, es sei denn ich wäre noch in das Café de Paris an die Veneto gegangen. Diese Weltverlorenheit.

    7. April 2000, Paris
     
    Erinnere mich, wie sehr mich das Aufkommen der Popkultur inklusive Hippies und Flower Power und der darauffolgenden 68er Bewegung nicht nur geschockt, sondern wie eine persönliche Attacke auf meinen Lebensentwurf getroffen hat. Es war in London 1967, und es hat mit meinem Selbstverständnis als Künstler zu tun.
    Künstler als Einzelgänger und als Randerscheinung der bürgerlichen Gesellschaft. Es gehörte ein gewisser Aristokratismus in dieses Bild, denn zu meinem Künstler paßte durchaus die geistige Verankerung in den besten kulturellen Latifundien und Traditionen und ein dazugehöriger Ästhetizismus. Es käme in meinem Falle insbesondere das
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