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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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Groll gegeneinander. Wir sind auseinandergelebt, manchmal wie Feinde.

    7. Juli 2000, Paris
     
    Vielleicht muß ich als ungewollte Spuren- oder Schatzsuche auf der Reise zurück ins Kuckucksnest die Tante Lola anpeilen. Ich habe mein Gepäck bestehend aus einem momentanen Unglück, einer Hoffnungslosigkeit und einem sinnlosen Aufbruchstrieb in der Tantenwohnung wie eine tickende Zeitbombe abgestellt und kehre mich angewidert ab mit Blick auf die Wohnung, die ich mir angeeignet habe wie ein Betrüger. Ein Betrüger? Sie hätte sie mir nicht übermacht, sie wollte nicht abgehen. Alles atmet ihre Gegenwart. Auch darum die Befremdung, Verlegenheit, Ungeborgenheit. Am liebsten wäre ich weggelaufen. Die Möbel. Das große Tantenbett, der Schrank braunmattglänzend, oben abgetreppt. Der Spiegel goldgerahmt und auf dem Bord des Cheminées die Nippsachen. Im vorderen Zimmer Tisch und riesige Sessel, Fauteuils, eine Ansammlung zum Ersticken. Der Hund? Soll er auch hier sein?
    Ich muß natürlich ihren Tod, die Schlüsselübergabe, die Pelze im Schrank, den Schmuck, die vielen privaten Dinge, Briefschaften, Kontoauszüge, Fotos, Ansichtskarten, Rechnungen, Korrespondenzen, SPUREN beschreiben. Muß das Begräbnis erzählen in Evian. Statt einer Wohnung habe ich das Tantenmuseum übernommen. Wohin mit der Ware? Ausmisten, ja. Es ist einfach kein Platz für mich. Doch habe ich keine andere Unterkunft. Und mit dem Abtragen dieses Lebensschutts schlüpfe ich in das mir peinliche Dasein der Verstorbenen und nolens volens in ihre Geschichte. Bevor ich die Geschichte nicht bewältigt habe, ist die Wohnung nicht frei. Also die Tante, das Tantenleben bestatten. Das Erbe antreten.

    15. Juli 2000, Paris
     
    Zur Picasso-Plastik-Ausstellung im Beaubourg.
    Ich habe hauptsächlich den Eindruck einer überbordenden Kunstfertigkeit gehabt und blieb merkwürdig unberührt. Ein Mann, der mit allem was eben vorliegt, mit Abfällen, als Verwandlungsakrobat Fauna und Flora und Mythenwesen und Alltäglichkeiten herzaubert und dabei alles in allem einzig das Spektakulum seiner grenzenlosen Ingeniosität und schöpferischen Fruchtbarkeit inszeniert. Was er anfaßt, wird Akteur auf der Bühne seiner Einbildungskraft. Und die Bühne ist das Welttheater einer nimmerendenden unerschöpflichen Zeugungswut. Picasso der Weltenschöpfer. Zur Zeugungswut gehört die Metamorphosenenergie. Es schimmern Erinnerungen an Mythen, vielleicht Religionen durch. Das Metamorphosische hat ein humoristisches Element. Der Artifex ist ein mit allen Wassern gewaschener Jongleur. Ist er ein Tiefenforscher, nahe den Ursprüngen? Auffallend die Abwesenheit von Leid und Tragik. Im Gegensatz zu Alberto Giacometti ist keine neue oder in die Zukunft weisende Welt- und Menschensicht spürbar. Ein wichtiger Einfluß ist die Negerkunst, von da das magische Ferment. Die klassizistische Epoche aus den dreißiger Jahren ist im Schillerschen Sinne sentimentalisch. Zu den Gipfeln seiner Kunst gehören die fruchtbaren Frauen und die gehörnten Frauenköpfe. Durchgehend das Züngeln der Kreatürlichkeit. Er hat für Generationen von Künstlern, nicht nur minderen, Vokabularien bereitgestellt, generös. Er ist kein Visionär, sondern tellurisch. Ein Spielkind noch im Alter. Nur im Sexus ist Tiefe. Ich war von der kopulatorischen Malerei des Spätwerks tief berührt, von der Plastik kaum. Auch Degas und Daumier und Matisse haben modelliert, um einige berühmte Maler zu nennen. Die Frage ist, ob Picassos Plastik nur eben ein Seitenwagen seiner Kunst zu nennen ist. Oder war ich vorübergehend oder besser akzidentiell blind und unempfänglich? Oder ist die Ausstellung falsch konzipiert und gehängt? Bin einigermaßen leer ausgegangen bei dem Besuch.

    9. August 2000, Paris
     
    Bin jetzt bald durch mit der Lektüre des Ulysses . Hatte keine Ahnung von der geballten Ladung Blasphemie und Obszönität, die da drinsteckt und die weiland das Buch auf die Liste der verbotenen Lektüren wie Millers Wendekreis des Krebses und Calafertes Septentrion brachten. Auf den Index. Die Sexualobsessionen und fäkalischen Perversitätsphantasien sind ja wirklich aufs generöseste präsent. Aber auch der Humor ist gewaltig.
    Das Vergleichzeitigungsprinzip läßt an den Kubismus denken, wobei diese intellektuelle oder wissenschaftliche Dimension immer wieder gebrochen wird durch Einschübe deftigen realistischen Erzählens. Es geht hier um eine Totalitätsschau und darüber hinaus um die Bereitstellung aller nur
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