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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Autoren: Sándor Márai
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klammert sich an der Mähne fest, bemüht, das andere Ufer zu erreichen. Vielleicht gelingt es nicht, und das rauschende Wasser spült mich mitsamt meinem Pferd fort. Doch auch das ist besser, eines Reiters und Menschen würdiger, als mit artistischem Geschick herumzuhüpfen.
    T. besucht mich. Er liest die Kritiken zum Tagebuch . »Eine Salve«, sagt er und zuckt mit den Schultern.
    So eine Salve habe ich nicht zum ersten Mal bekommen. Gestern schossen die Pfeilkreuzler, vorgestern die Faschisten, noch früher – ich erinnere mich nicht mehr genau, warum, ich glaube, weil ich von der jüdisch-liberalen Újság zum jüdisch-liberalen Pesti Hírlap gewechselt bin – die Juden, die darin eine Art Verrat sahen; sie konnten aber nicht sagen, an wem, woran und wo ich Verrat begangen hätte; dann die Actio Catholica und ihre Tochterblätter; dann György Oláh, Milotay, Rajniss in Leitartikeln, mit scharf geladenen Füllfederhaltern; jetzt die Kommunisten, eigentlich nicht die Kommunisten, sondern die als Marxisten getarnte geistige Unterwelt, und sie hoffen, aufzufallen und so nach oben zu kommen. Salven hat es stets gegeben. An die dauernden Salven gewöhnt man sich nicht nur, man wird ihrer auch überdrüssig. Ich gähne, während die Salven abgefeuert werden. Wenn die Welt noch weiter nach links rückt, werden sie mich auch noch auf andere Art attackieren, handgreiflicher. Diese Möglichkeit betrachte ich nur noch mit Gleichgültigkeit – Verhaftung, Internierung, Deportation und so weiter – wie die septischen Even tua litäten einer eitrigen Mandelentzündung. Der »bürgerliche Schriftsteller« – (aber bitte schön, was kann das für einer sein? …) – ist immer Zielscheibe von Salven. Der Mensch, welcher sich nicht einer Partei oder einer Weltanschauung, sondern der Bildung und dem Prinzip des qualitätvollen Wettbewerbs verschrieben hat, ist immer ein Gegner. Ein Mensch wie dieser verteidigt sich, wie er es kann: mit Arbeit, die bis an die Grenze der Möglichkeiten kompromisslos ist; und darüber hinaus mit völligem Schweigen und mit Gleichgültigkeit.
    Der kleine Bub ist strahlend intelligent. Glücklich beobachte ich das Erblühen seines Geistes, mit Freude und Verblüffung wie eine Naturerscheinung erster Klasse. »Das Leben ist schlecht«, sagte er heute beim Spielen, ohne Überleitung und voll Resignation. Er erklärte mir nicht, warum es schlecht ist. Ruhig und ernst setzte er sein Spiel fort.
    Manchmal bin ich völlig perplex. Heute hat er unerwartet gesagt: »Heute ist, was gestern morgen war.« Er ist etwas über vier Jahre alt und formuliert manchmal wie Spinoza.
    Die Briefe des Julianus. Was mochte er am Christentum nicht? Er fand es armselig, trostlos. Mithra und Helios, die alten Götter, waren in allem attraktiver, bunter, vollkommener für ihn als der grame christliche Gott des Schuldbewusstseins.
    Seine Briefe sind höflich. Er ist auch dann höflich, wenn er verurteilt oder tadelt. Die Philosophen, Schriftsteller werden von ihm meist mit Reverenz angesprochen, als seien sie gleichrangige Partner: Er, der Kaiser, erkannte nur eine höhere Macht an, den Geist.
    T. spricht von den Attacken, die auf meine Petöfi-Glosse erfolgten, und erzählt, seine Großmutter habe Petöfi noch persönlich gekannt. In seiner Kindheit habe er oft gehört, wie die alte Frau sagte: »Er war ein großer Dichter. Aber ein ekelhafter Mensch. Überheblich, ungerecht.«
    Diesen Winter kann man wohl nur mit irgendeiner Art Bärentechnik überleben: mich in dieser Höhle am Rande des Waldes verkriechen und die Jahreszeit des Elends und des Sturms verschlafen. Zwischendurch manchmal, auf den Seiten dieses Tagebuchs, ein wenig brummen. Alles andere wäre ein unvernünftiges und zweckloses Unterfangen.
    Heute ist in Budapest die Premiere meines Theaterstücks Zauber . Ich bin nicht hingefahren, um mich im Rampenlicht zu verbeugen, in einer Welt, mit der ich ebenso wenig gemein habe wie mit der vergangenen. Ich bleibe am Abend der Premiere hier im Dorf. Was anderes kann ich nicht tun.
    Das Theater hat die Aufführung des Stückes erzwungen, es machte Gebrauch von seinem verbrieften Recht. Ich wollte es ihnen ausreden, umsonst. Doch das ist alles schon belanglos. Bücher, Theater sind nicht mehr von Bedeutung – nicht von Bedeutung ersten Ranges. Alles ist zweitrangig, gemacht, verlogen, gekünstelt. Nur die Schreckensherrschaft der Willkür, der Unbildung ist noch von Belang.
    Der Schriftsteller wird inmitten der
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