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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Autoren: Sándor Márai
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kommunistischer Schriftsteller zitiert meinen unglücklichen Artikel über Ossietzky und fordert mich dazu auf, für immer zu schweigen. Wenn er wüsste, wie gern ich dieser Aufforderung nachkommen würde! Sich mit Schweinezucht zu beschäftigen wäre auf jeden Fall ein sinnvolleres und erfolgreicheres Unterfangen, als sich im heutigen Ungarn mit Literatur abzugeben … Leider hängt mein »Schweigen« nicht von mir ab. Hier geht es um ein Gesetz, das nur ich kenne. Mich kann man nur zum Schweigen bringen ; alles andere unterliegt nicht den irdischen Gesetzen.
    Ich will es nicht bestreiten: Es war falsch, diesen Ossietzky-Artikel zu schreiben, vor neun Jahren! Ich bereue es, und es tut mir leid. Doch in den letzten fünfundzwanzig Jahren war ich gezwungen, unzählig viele – mehrere Tausend – Artikel zu schreiben; ich wäre kein Mensch, wenn ich mich nicht manchmal geirrt, nicht auch einmal derb übertrieben hätte … Doch ich war Mensch und habe mich in vielem geirrt. Nur in einem, so glaube ich, habe ich mich nie geirrt: in meinem Streben nach Bildung und Menschlichkeit. Niemals willentlich. Doch gerade in diesen fünfundzwanzig Jahren ergab es sich oft so, dass ich keine Möglichkeit hatte, gerade dieses Streben lautstark und unmissverständlich unter Beweis zu stellen. Vielleicht ist das eine Sünde. Ich will mich auch nicht verteidigen. Alles, worum ich bitte, ist, dass diese Blutrichter des Geistes sich mit meinem Kopf zufriedengeben und sich all jener erbarmen mögen, die sich auf ähnliche Weise versündigt haben.
    Mit V. spaziere ich im bleischweren Regen, im Nebel, an einem späten Dezemberabend nach Buda zu meiner Wohnung. Wir stapfen im Stockdunkeln durch Schlamm und Matsch, zwischen den wohlbekannten Ruinen dahin. Er erzählt ohne besondere Betonung, fast gleichgültig, dass sie Hunger leiden und seine Frau über die physische Tragödie, die sie während der Belagerung erlitten hat, immer noch nicht hinweggekommen ist; sie liegt im Spital, ist krank … »Am schlimmsten war«, sagt er, »dass die Kinder gesehen haben, wie ihre Mutter weggeschleppt wurde. Auch heute reden sie noch davon.« Emotionslos spricht er, demütig und gleichgültig, wie jemand, der sich schon mit allem abgefunden hat.
    Dann reden wir über Krúdy; dass er am Ende des letzten Weltkriegs von der äußerlichen Verelendung der Budapester geschrieben hat. »Die Vogelscheuchen sind in Budapest eingezogen«, schrieb er damals.
    Die Unaufrichtigkeit nimmt, wie eine Seuche, erschreckende Ausmaße an. Sie infiziert Seelen und fordert überall Opfer. Die Gesellschaft hat jede Hemmung, jede Scham verloren.
    Jeder ungarische Geistesmensch war gezwungen, sich am 19. März 1944 – wenn nicht schon vorher! – in die Emigration zurückzuziehen. Auch ich. Nun, da ein Jahr vergangen ist, fanden viele, dass die Zeit reif sei, aus dieser Emigration nach Ungarn zurückzukommen. Ich sehe keinen Grund, aus der Emigration heimzukehren – ich kann nirgendwohin heimkehren. Vielleicht muss ich noch lange hier leben, vielleicht muss ich auch in dieser Emigration, in dieser Fremde sterben: in meiner Wohnung in der Zárdastraße oder in Leányfalu.
    Warum lebe ich in der Emigration? Weil ich ohne geistige Freiheit nicht bereit bin, Ungarn als mein Zuhause zu akzeptieren. Ohne geistige Freiheit gibt es keine Heimat, nur ein Staatsgebiet, Städte und Bevölkerung – das kann man schließlich überall finden. Sogar hier.
    Die Petőfi-Glosse im Tagebuch wird von den kommunistischen Richtern unter lautstarkem Zur-Rede-Stellen und augenrollen der Entrüstung immer wieder zitiert, verfälscht, verdreht … Die Demokratie erträgt, nach diesen Zeichen zu urteilen, die Kritik an ihren Heiligen schwerer als die katholische Kirche.
    Zum Beispiel wird Attila József ständig als »der Dichter, der vom Kapitalismus zum Märtyrertod verurteilt wurde«, angeführt. In Wirklichkeit war Attila József ein Gemütskranker, der sich eines Tages vor den Zug geworfen hat, weil seine Krankheit ihn dazu getrieben hatte. Dieser tragische Akt hat mit dem Kapitalismus nichts zu tun: Schizophrenie ist eine konstitutionelle Geisteskrankheit, meist hat sie ihre Wurzeln in der Pubertät, über ihre wirklichen Ursachen ist man sich immer noch im Unklaren, und das Kind eines Millionärs kann dieser Krankheit ebenso erliegen wie ein armer, genialer proletarischer Dichter. Aber wehe, einer wagt es, darüber zu sprechen!
    Es kann sein, dass sich das Elend – das eine materielle Realität
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