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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Autoren: Sándor Márai
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Hunderte und Hunderttausende. Sie sind kein sympathischer Menschenschlag. Aber die Juden auch nicht. Darum geht es hier nicht. Das Prinzip der kollektiven Bestrafung als internationale Praxis ist inakzeptabel. Gestern die »Juden«, heute die »Deutschen«, morgen das »Bürgertum«, anschließend jene mit Schlappohren … und sie vertreiben Schuldige und Unschuldige, Kinder und Greise. Die Moral des europäischen Lebens ist am Ende. Die »Großmächte« vertreiben »aufgrund von Resolutionen« gleichgültig Menschenherden in großer Zahl, die einst aus Hochkulturen kamen und sich ein Zuhause aufgebaut haben. Es geht nicht um Herrn Müller, sondern um die Deutschen. Es lohnt sich nicht mehr wirklich zu leben.
    Das schöne Empiregebäude des Császár-Bades ist nicht beschädigt worden. Wenn ich in Budapest bin, komme ich jeden Morgen hierher zum Baden. Es ist ein großes Zeremoniell: Im »Salonbad« herrscht peinliche Sauberkeit, hier gibt es versenkte Badewannen aus Marmor mit Stufen, hier gibt es glänzende Messingstangen, vorgewärmte Badetücher. Geradezu ein priesterliches Unterfangen ist das hier, das Personal – der Abreiber, der Hühneraugenschneider – verhält sich feierlich wie der Küster in der Kirche. Ich ziehe mich aus, das Heilwasser dampft im Marmorbecken. Ich nehme meine Brille, meine Zeitung und sogar eine Zigarette mit ins Wasser, tauche ein ins schweflige heiße Nass, lese, und mein Körper wird leicht und weich. Als würde sich meine Persönlichkeit langsam auflösen, und ich fühle mich um zweitausend Jahre älter. Genau auf diese Weise mag ein römischer Schriftsteller zu Mark Aurels oder eher Caracallas Zeiten im warmen Wasser der Thermalbäder gelegen haben, in dem Bewusstsein, dass, während er badet und liest, um ihn herum eine Kultur ihr Ende findet.
    Am frühen Morgen mache ich mich bereit für Buda. Ich frühstücke, vor dem Fenster der winterliche Garten, die Donau in taufrischem Licht. Leise spielt das Radio, irgendeine süße Señoritamelodie wird heruntergeleiert. Diese Melodie ruft Erinnerungen an den Golf de Juan wach, einen Sommermorgen, nackte Körper im braunen Sand, die Bläue des Mittelmeers, Tanzmusik, das Brummen leichter Flugzeuge. Ich höre diese Musik, während ich in Richtung Szentendre gehe. Als lauschte ich einer Hymne, die noch nicht geschrieben ist.
    In Budapest ist irgendein infektiöses Element in der Luft. Ich gehe ein paar Straßen entlang, spreche ungerührt mit ein, zwei Menschen, und mein Organismus füllt sich mit dieser miasmatischen Infektion, mir ist übel. Überall die Dämpfe und der Geruch des Zerfalls.
    Es reicht nicht, glücklich zu sein. Man braucht auch Geduld und Übung dazu, wie für ein Meisterwerk.
    Ein Misserfolg ist eine gute Sache: Er ist ernst, wirklich, greifbar. Ein Gegengewicht im Leben, mehr als Ansporn: eine Art Befriedigung.
    Zwei Weltkriege habe ich erlebt. Ich glaube, jetzt folgt der dritte: mein eigener, also der wirkliche. Vielleicht überlebe ich ihn.
    Im Theater. Seit der Premiere bin ich das zweite Mal hier. Wenige Augenblicke vor Beginn der Aufführung stehen wir auf der Bühne. Hinter dem herabgelassenen Vorhang Gemurmel im Zuschauerraum. Die Situation ist eigenartig, und sie ist nicht nur theatermäßig. Vieles ist im Leben geschehen, bis ich hier angekommen bin. Es würde mich nicht überraschen, wenn sich jetzt plötzlich der Vorhang heben und wir zu spielen beginnen würden. Vielleicht hätten wir auch so viel Erfolg wie die Commedia dell’Arte im Allgemeinen.
    Eine Kaffeesiederei auf der Andrássystraße. Eine Masse von Schiebern an den Tischchen, die Schieber des Handels, der Literatur, der Journaille. An solchen Orten ist in den vergangenen Jahrzehnten – in Berlin, Rom, Paris, London – eine Kultur in ihre Bestandteile zerfallen.
    Heim, nach Leányfalu. In der Sauberkeit, in der Stille baden. Und mit tiefer Sehnsucht an die lärmende, schmuddelige Stadt zurückdenken; an die Stadt, in der mein Leben Spannung hat.
    Ein Augenblick, in dem ich schwach werde. Verursacht durch die Hilflosigkeit der würgenden Verzweiflung. Ein Augenblick nur, nicht mehr. Es darf nicht vorkommen.
    Ein anderer Augenblick, in dem ich glaube, dass ich aus dieser warmen, sauberen, ruhigen und hellen Stube hinausgehen muss in die nach Aas riechende Finsternis, in einen Shakespeare’schen Sturm, eisigen Wind, wildes Schneetreiben, unter die Räuber. Dieser Augenblick ist schwer. Doch dann, draußen auf der Straße, tut diese raue
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