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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Autoren: Sándor Márai
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ist, aber auch eine künstlich herbeigeführte Möglichkeit sein kann! – in diesem Winter jenseits der Revolution mit Verfassungsrang auch in Richtung einer Revolution auf der Straße entwickelt … Wer soll das verhindern? Schwer vorstellbar. Eher ist es das Gesetz der Trägheit, das dieses Leben noch so einigermaßen im Gleichgewicht hält. Wenn es so geschieht, wird die Revolution an jede Tür klopfen, auch an die meine. Ich erwarte sie voller Gleichmut.
    Ich lese die Briefe von Julian Apostata . Er war mehr als ein »Stilist«: Er war ein Formulierer, im praktischen Sinne des Wortes, als eine genau definierte »Formulierung« – aus der Feder eines Kaisers! – noch gleichbedeutend mit der Tat war. Die zweisprachige (französisch-griechische) Ausgabe scheint eine haargenaue Übertragung zu sein. Eine französische Arbeit eben, im besten Sinne.
    Habe begonnen, die Fortsetzung der Beleidigten zu schreiben.
    Ich habe Fieber, schwitze, bin schlechter Laune. Sei stark, verstehst du!? Was ist es, das du nicht ertragen kannst? Du musst das alles ertragen, sonst war es vergeblich, und du bist ein Betrüger.
    Sie lügen wieder und weiterhin mit Goebbels’ Methoden, primitiv, abgeschmackt … Im ungarischen Rundfunk wird der Angriff eines russischen Kommentators verlesen: Ein Angriff gegen den Papst, der – wie der russische kommunistische Kommentator erklärt – »auf der Seite jeder Form des reaktionären Faschismus steht, und so wie er in der Vergangenheit nicht bereit war, seine Stimme gegen Hitler und Himmler zu erheben, so unterstützt er die Anhänger des Faschismus.« Die ganze Welt weiß, dass Pacelli heldenhaft gegen den Nationalsozialismus aufgetreten ist und die Nazibarbarei aufs Schärfste und mit allen Konsequenzen verurteilt hat. Und trotzdem kann man so etwas schreiben, im Radio verlesen, in die Welt hinausposaunen … Worte haben keinen Wert mehr.
    Müdigkeit, die zur Ohnmacht zwingt. Ich nehme Phosphor und habe mir Sympathol besorgt … Aber das kann nicht helfen. Nur der Strom des Lebens kann helfen.
    Julianus beschwert sich in einem seiner gallischen Briefe, dass er Griechisch nur noch fehlerhaft zu schreiben imstande ist, weil ihn die »Atmosphäre der Barbarei verwildern« lasse. Ich verstehe diese Klage … auch aus einer Entfernung von anderthalbtausend Jahren ist sie mir nur zu leicht verständlich.
    Als er Kaiser wurde, wollte er, dass die Rhetoren, die Erzieher, die Philosophen ihm beim Regieren zur Hand gehen. Doch die Rhetoren, die Erzieher, die Philosophen, denen er hohe Staatsämter anbot, lehnten vorsichtig ab, traten zur Seite und entzogen sich. Diese drängenden Briefe sind gespenstisch aktuell. Wie wenig sich die menschliche Welt verändert hat und wie klein der Teller ist, über dessen Rand die Menschheit nicht hinausblicken kann! Einer legt sein Ministeramt nieder, beruft sich dabei auf seine angeschlagene Gesundheit, ein anderer redet sich auf familiäre Gründe heraus, ein dritter hat schlechte Nachrichten von seiner Wahrsagerin bekommen … Die Weisen damals drückten sich vor der Verantwortung, die mit politischer Macht einhergeht, genauso wie heute. Und die Weisen hatten, von ihrem Standpunkt aus, recht. Sie dürfen sich nur nicht wundern, die Weisen der Vergangenheit und der Gegenwart, wenn an ihrer Stelle zackige Feldwebel, Abenteurer, ehrgeizige Halbtrottel, kurzum: Gelegenheitspolitiker, die Macht ergreifen.
    In Sachen irgendeiner Personenkontrolle eines Militäroffiziers bin ich als Zeuge auf die militärpolitische Staatsanwaltschaft geladen. Ich werde nach meinen persönlichen Daten gefragt, unter anderem Folgendes: »Welcher Partei gehören Sie an?« Und als ich erkläre, dass ich bei keiner Partei bin, sieht mich die Bürokraft verwundert an. Als würde ich sagen: »Ich bin Atheist, ohne Bekenntnis.«
    Heute vor einem Jahr fragte man in ähnlicher Situation: »Welchen Glauben haben Sie?« Und ein Jahr später fragen sie: »Bei welcher Partei sind Sie?« Heute ist die PARTEI - Zugehörigkeit, was vor einem Jahr die Religionszugehörigkeit war. Doch die Partei ist noch ein wenig unduldsamer.
    Sprichwörter sind immer Gemeinplätze, und sie haben immer recht. Zum Beispiel stimmt auch dieses englische Sprichwort: »Wer einen Fluss voller Strudel durchquert, soll unterwegs sein Pferd nicht wechseln.«
    Der Fluss ist jetzt wirklich voller Strudel; nicht erst seit gestern; und auch morgen ist die Flut noch nicht vorbei. Am besten bleibt jeder auf seinem Pferd sitzen und
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