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Unwiederbringlich

Unwiederbringlich

Titel: Unwiederbringlich
Autoren: Theodor Fontane
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Tage verleben zu können. Diese glücklichen Tage waren nun freilich ausgeblieben; aber der all die Zeit über auf ihm lastende Druck war im Verkehr mit einer liebenswürdigen englischen Familie, mit der er gemeinschaftlich eine Dependance des Tramontana-Hotels bewohnte, doch schließlich von ihm abgefallen, und er hatte wieder leben und, was noch wichtiger, sich um das Leben anderer kümmern gelernt. So waren Wochen vergangen, unter Wagenfahrten nach Amalfi und unter Bootfahrten nach Capri hinüber, wobei die Schiffer ihre Lieder sangen; aber die heiße Jahreszeit, die bald einsetzte, vertrieb ihn, früher, als ihm lieb war, aus dem ihm zusagenden Idyll bis in die Schweiz hinauf, die es ihm diesmal freilich, sosehr er sie sonst liebte, nirgends ganz recht machen konnte: der Genfer See blendete zu sehr, der Rigi war zu sehr Karawanserei und Pfäfers zu sehr Hospital. So beschloß er denn, weil's ihn, wenn nicht in die Heimat, so doch wenigstens weiter nordwärts in die germanische Welt überhaupt zurückzog, es mit London zu versuchen, an das ihn freundliche Jugenderinnerungen knüpften und wohin ihn die mit ihm zugleich von Sorrent aus abgereisten englischen Freunde mit einer Art Dringlichkeit geladen hatten. Nach London also! Und da war er nun seit einem halben Jahr und empfand unter Verhältnissen und Lebensformen, die den schleswig-holsteinischen einigermaßen verwandt waren, soviel von Heimatlichkeit, wie sie der Heimatlose gewärtigen konnte. Ja, die gesellschaftlichen Verhältnisse konnten ihn befriedigen, und manches andere kam hinzu, das wohl angetan war, ihn von dem immer wachsenden Gefühl seiner Einsamkeit auf wenigstens Stunden und Tage frei zu machen. Eine kleine Theaterpassion, die schon in zurückliegender Zeit die Tage seiner Londoner Attachéschaft so angenehm gemacht hatte, wurde wieder lebendig, und das ganz in der Nähe von Tavistock-Square gelegene Prinzeß-Theater sah ihn regelmäßig auf einem seiner Parkettplätze, wenn der gerade damals mit seinen Shakespeare-Revivals epochemachende Charles Kean heute den »Sommernachtstraum« oder das »Wintermärchen« und morgen den »Sturm« oder »König Heinrich VIII.« in bis dahin unerhörter Pracht auf die Bühne brachte. Zu diesem Charles Kean trat er denn auch im Laufe des Winters in persönliche Beziehungen, und als er schließlich in dem von Künstlern und Schriftstellern vielbesuchten Hause des berühmten Tragöden auch noch die Bekanntschaft von Charles Dickens gemacht hatte, sah er sich, übrigens ohne deshalb seine dem Landadel angehörigen Freunde Sorrentiner Angedenkens vernachlässigen zu müssen, in allerlei Theater- und Literaturkreise hineingezogen, deren lebhaftes und von heiterster Laune getragenes Treiben ihn ungemein sympathisch berührte. Namentlich Dickens selbst war seine Schwärmerei geworden, und bei Gelegenheit eines Whitebait-Dinners in Greenwich ließ er seinen neugewonnenen Freund leben, den großen Erzähler, von dem er zwar nur den »David Copperfield« kenne, der aber als Verfasser dieses Buches auch der Sanspareil aller lebenden Schriftsteller sei. Mehr von ihm zu lesen, wozu er von den übrigen Anwesenden am Schluß seines Toastes unter Lachen aufgefordert wurde, behauptete er ablehnen zu müssen, da »Copperfield« auch von Dickens selbst schwerlich übertroffen worden sei, weshalb ein weiteres Lesen eigentlich nur zur Herabminderung seiner Begeisterung führen könne.
    Reunions wie diese, daran auch gefeierte Damen aus der Künstlerwelt, namentlich die schöne und vielumworbene Miss Heath und vor allem die geniale Lady-Macbeth-Spielerin Miss Atkinson beinahe regelmäßig teilnahmen, waren mehr als eine bloße Zerstreuung für Holk, und er hätte sich durch diesen Verkehr nicht bloß seiner Einsamkeit entrissen, sondern auch geradezu gehoben und erquickt fühlen können, wenn er sich einigermaßen frei gefühlt hätte. Dies war aber genau das, was ihm fehlte; denn gerade der Fleck Erde, daran er mit ganzer Seele hing, auf dem er geboren und durch Jahrzehnte hin glücklich gewesen war, gerade
der
Fleck Erde war ihm verschlossen und blieb es auch mutmaßlich, wenn es ihm nicht glückte, seinen Frieden mit der Gesellschaft zu machen, einen Frieden, der wiederum eine Versöhnung mit Christine zur Voraussetzung hatte. Daran war aber nach allem, was er aus der Heimat hörte, nicht wohl zu denken: denn sosehr die Gräfin darauf hielt, daß seitens der Kinder an schuldiger Rücksicht nichts versäumt und beispielsweise jeder
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