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Unterwirf dich

Unterwirf dich

Titel: Unterwirf dich
Autoren: Molly Weatherfield
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weißem T-Shirt und einer Lederjacke. Die Jacke kam mir bekannt vor. Nicht schlecht, dachte ich, aber die Schulternähte sind ein bisschen nachlässig genäht. Und die Reißverschlüsse glänzen zu sehr. Außerdem wirkt die Jacke ein bisschen zu neu und zu steif. Ein billiges Imitat der Jacke, die ich selbst trug. Aber er hatte ja auch nicht so gut verdient wie ich im vergangenen Jahr. Trotzdem rührte es mich, dass er sie extra gekauft hatte, um darin für mich gut auszusehen. Und unter der Jacke schien schließlich alles an seinem Platz und in Ordnung zu sein. Nichts Besonderes, wenn man von der Lücke zwischen seinen Zähnen absah.
    Wir fuhren in den Bahnhof von Lyon ein. Ich würde doch nicht aussteigen. Also erzählte ich ihm … nun, es war keine Zeit, ihm alles zu erzählen, aber ich erzählte ihm viel. Über mein Jahr und über Jonathan. Gelegentlich nickte er ernsthaft. Zuerst war ich erleichtert, dass er nicht entsetzt war, aber als ich weitererzählte, beunruhigte es mich doch, dass er so gar nicht reagierte. Selbst Stuart war ein bisschen grün um die Nase geworden, als ich ihm die heftigeren Sachen erzählt hatte. Daniel jedoch wirkte nicht besonders überrascht, und er stellte mir auch keine Fragen. Natürlich weiß ich inzwischen, dass er Angst hatte, sich zu verraten, weil er doch ins Informationssystem der Gesellschaft eingedrungen war. Er schämte sich sogar ein bisschen. Obwohl es ihn insgeheim freute, dass er es geknackt hatte – war er doch mangels Interesse zuvor noch nie als Hacker tätig gewesen. Und er fürchtete sich auch vor meiner Reaktion, weil er so viel über meinen Körper wusste – die Gesellschaft führt erstaunliche Statistiken, unter anderem führt sie genau auf, wie viel Schmerz und Penetration jemand ertragen kann. Und er wusste auch nicht, wie er mir erklären könnte, dass er mich in einem siebensekündigen Filmclip bei den Rainbow Races am Hudson River über die Ziellinie hat laufen sehen. Er hat ihn sich in der Nacht des Hacks mindestens vierhundertmal angeschaut. Er meinte, dass ich das vielleicht ein bisschen abgedreht finden könnte – als ob irgendetwas abgedrehter sein könnte, als an einem solchen Rennen teilzunehmen. Und er fühlte sich schuldig, dass er in meine Privatsphäre eingedrungen war, auch wenn er den Einbruch als Akt der Liebe verstand. Deshalb schwieg er einfach, bis ich mit meiner Erzählung fertig war.
    »Und jetzt«, sagte er schließlich, »willst du zu ihm, zu … äh … Jonathan, zurück, oder?«
    »Ja«, sagte ich. »Na ja, ich glaub jedenfalls. Irgendwie …«
    Er schwieg.
    »Ich weiß es nicht«, sagte ich.
    »Ich muss mal sehen«, sagte ich. »Ich werde es wissen, wenn … ich es weiß.«
    »Hör mal«, er stotterte ein bisschen vor Aufregung, »ich weiß ja, dass wir einander eigentlich gar nicht kennen, aber … äh … wenn es mit ihm nicht funktioniert … na ja – hier: meine Adresse in Paris. Aber in ein paar Wochen kehre ich wieder an meinen richtigen Arbeitsplatz zurück. Ich arbeite an der Universität. Du könntest mit mir kommen … ich meine, wenn du willst.«
    »Wohin?«, fragte ich.
    »Nach Urbana, Illinois«, sagte er. Beim Anblick meines Gesichtsausdrucks fügte er defensiv hinzu: »Sie betreiben dort wirklich wichtige Forschung über kognitive Prozesse. Sie haben mir fast so viel Geld geboten …«
    Er schwieg verlegen, weil er nicht angeberisch klingen wollte. »Ich wollte gerade in dieser Art von Forschung gerne arbeiten, darum auch das Jahr am Institut in Paris. Es ist gar nicht so übel, mal eine Zeit lang von der Ostküste weg zu sein. Ich meine, ich bin in New York aufgewachsen …« Er zuckte mit den Schultern, weil er sich denken konnte, dass ich es inzwischen mitbekommen hatte.
    Ich nickte. Urbana ist zwar nicht der tollste Ort, aber immerhin so weit von New York entfernt, dass er zum Thanksgiving-Dinner nicht nach Hause zu kommen brauchte. Ich meine, Weihnachten – oder in seinem Fall wahrscheinlich Hannukah – ist okay, aber Thanksgiving … ich weiß nicht, man möchte einfach gerne mal ein paar Jahre lang aussetzen. Selbst wenn deine Eltern einigermaßen okay sind, so wie meine.
    Deshalb war Urbana in meinem Fall auch nicht ganz so gut. »Tja, weißt du, ich bin in Bloomington, Indiana, aufgewachsen«, sagte ich.
    Dann würde es also wieder Thanksgiving geben. Und Winter im Mittleren Westen – ich weiß noch, wie ich damals, nach unserem Jahr in Montpellier, diesen ersten Winter zu Hause gehasst habe. Nicht
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