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Unterwegs in der Weltgeschichte

Unterwegs in der Weltgeschichte

Titel: Unterwegs in der Weltgeschichte
Autoren: Hans-Christian Huf
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Chef-Erdenbürger gewissermaßen, müsse sich, so Freud, bereits seit Galileo Galilei damit abfinden, dass er und sein Erdkreis nicht mehr im Mittelpunkt des Universums stünden. Das sei eine fundamental neue Erfahrung, die mit der beruhigenden Welt- und Gottesgewissheit unserer Vorfahren schmerzlich aufräumt. Damit aber nicht genug: Seit Darwin müssen wir außerdem zur Kenntnis nehmen, dass wir vom Affen abstammen. Wermutstropfen auf Wermutstropfen, Enttäuschung auf Enttäuschung. Eine noch tiefere Kränkung aber sei es endlich, dass »der Mensch noch nicht einmal Herr in seinem eigenen Hause« sei, sondern dass unter der Oberfläche seiner Vernunft und Kultur unbeherrschbar das Unbewusste brodelt, wie die Psychoanalyse zeige.
    Freud demontierte mit seiner Analyse das stolze Selbstbild seiner Zeitgenossen und provozierte damit heftigen Widerspruch. Die furchtbaren Weltkriege des 20. Jahrhunderts mit ihren barbarischen, kulturspottenden Exzessen aber lieferten prompt den Praxisbeweis für den freudschen Skeptizismus, sein »Unbehagen an der Kultur«. Spätestens jetzt musste die Menschheit sich endgültig von der alten, lieb gewordenen Vorstellung verabschieden, sie sei die Krone der Schöpfung, habe ihre Triebe und Emotionen im Griff und stünde intelligent und souverän im Zentrum des Kosmos.
    Hat Freud schon geahnt, wie sehr die allerneueste wissenschaftliche Forschung seinen Ansatz vertiefen und sogar noch radikalisieren würde? Etwa durch die Erkenntnisse der modernen Biogenetik? Da wird die Frage, wer wir eigentlich sind, zu einer immer schwerer lösbaren Rätselaufgabe.
    Nur ein Beispiel: Die Molekularbiologen rechnen uns heute vor, dass unser Körper aus etwa 10¹³ – also 10 Billionen – Körperzellen besteht. Ist nun damit unsere Identität medizinisch ausreichend beschrieben? Ist dieser Zellbestand unser materiell definierbarer Besitz? Sind wir das?
    Nicht nur, sagt die moderne Biologie. Und uns wird dann erklärt, dass in und auf unserem Körper etwa zehnmal so viele Bakterienzellen, also 100 Billionen körperfremde Lebewesen, siedeln. Zwar sind sie viel kleiner und mit einem Gesamtgewicht von etwa einem Kilo pro Mensch auch viel leichtgewichtiger als unsere Körperzellen – aber doch zahlenmäßig deutlich in der zehnfachen Überlegenheit.
    Ist diese »fremde« Mehrheit, die im Übrigen ja auch eine viel größere Anzahl an Genen beinhaltet, als es unser eigenes Erbgut tut, nun Bestandteil unserer Identität? Sind wir diese Fremden? Die Biologen würden sagen: Ja! Denn ohne die Bakterien würden wir nicht überleben können. Sie übernehmen wichtige Arbeiten in und an uns, die unser genetisches Programm gar nicht leisten kann. Etwa in der Darmflora die Zerlegung der aufgenommenen Nahrung in Eiweiß-, Zucker- und Fettmoleküle, die Voraussetzung für unseren Stoffwechsel. So ist jeder Einzelne von uns genetisch gesehen eine Ansammlung von vielen. Bedenkt man weiter, dass etwa neunzig Prozent unserer gesamten Körperzellen innerhalb eines Jahres absterben und immer wieder erneuert werden, wir uns also in einem steten Prozess der Verwandlung befinden, dann wird die Frage, wer wir sind, aus biologischer Sicht jede Minute neu zu stellen sein.
    Neueste Erkenntnisse der Psychologie unterstützen diese Vorstellung von einem steten »Wandel-Wesen Mensch« auch inner-psychologisch: Ging die Menschheit jahrtausendelang davon aus, dass die Identität jedes Wesens als kontinuierlich aufsteigende Entwicklungslinie zu verstehen sei, so wird heute von einer eher punktuellen, lebensgeschichtlich ständig wechselnden Identität gesprochen. Offenbar sind wir in unseren Entscheidungen und Vorlieben viel weniger von objektiven Einsichten geleitet als vielmehr von biografischen Zuständen, die sich fortwährend ändern. Unser wechselhaftes Schicksal verurteilt uns zu jeweiligen Meinungen und Taten, die wir gleichwohl für souveräne Entscheidungen halten. Wir agieren aber viel weniger vernünftig, als wir denken. Wir handeln hauptsächlich biografisch determiniert. Und so kommt es, dass wir in der Jugend ganz andere Interessen haben als im Alter. Dass Selbstmordattentäter zu 99 Prozent jünger sind als 23 Jahre und neunzig Prozent der alten Menschen gerne Mozart hören. Oder dass man viel mehr Zeit mit der Auswahl seines Rasierwassers zubringt als mit der viel sinnvolleren
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