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Unterwegs in der Weltgeschichte

Unterwegs in der Weltgeschichte

Titel: Unterwegs in der Weltgeschichte
Autoren: Hans-Christian Huf
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er »nichts Totes um sich haben wollte«.
    Absurd und furchtbar war dieses Leben. Aber noch absurder und noch furchtbarer ist ein anderes Phänomen, über das nachzugrübeln wir wohl niemals fertig werden: Wie konnte es sein, dass Millionen von Menschen den Visionen und Befehlen dieses Mannes folgten?



37. Wer oder was sind wir?
    D as Beste kommt zum Schluss, heißt es. Das wird auch bei uns so sein, im letzten Kapitel. Aber wir sind noch nicht fertig mit dem Absurden. Und schon gar nicht mit dem Furchtbaren. Dafür versprechen wir Ihnen anschließend – ganz individuell, ganz exklusiv – einen Raumflug ins All, um aus großer Entfernung auf die Erde zurückzublicken. Es gilt Distanz zu gewinnen, die Voraussetzung aller Erkenntnis.
    Es war Georg Wilhelm Friedrich Hegel – Sie sind ihm bereits mehrfach begegnet –, der in der Vorrede zu seinen »Grundlinien der Philosophie des Rechts« (1821) die Mythologie und die Ornithologie zu Hilfe nahm, um in einem großartigen Bild zu verankern, dass Einsicht und Erkenntnis erst mit einem gewissen Abstand zu den Ereignissen möglich ist. »Die Eule der Minerva«, der Vogel der Einsicht und der Weisheit, so Hegel, beginne »erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug«, wenn die größte Sehschärfe zu erzielen sei. Das vergangene Jahrhundert, auf das noch einmal zurückzukommen ist, war so reich an Weltuntergangsszenarien, so gesättigt mit Düsterkeit und »Menschheitsdämmerung«, dass vielleicht auch hier Hoffnung auf Klarsicht gegeben ist, wenn wir entsprechende Distanz gewinnen.
    Rufen wir uns deshalb die Bilder des 20. Jahrhunderts mit ihren himmelschreienden Absurditäten noch einmal ins Gedächtnis. Darunter auffallend viele deutsche Bilder.
    Und wenn es ein besonders überraschendes Verdienst der neu erfundenen psychoanalytischen Forschung des Wiener Doktors Sigmund Freud gibt, dann doch dieses: dass Freud schon vor der großen Katastrophe des Zweiten Weltkriegs erkannt hat, wie gefährlich dünn der Boden der menschlichen Kultur ist, auf dem wir scheinbar so selbstsicher wandeln. Und dass unter dieser zivilisatorischen Eierschale die Bilder des Grauens und der triebhaften Niedrigkeit lauern, vor denen zu warnen und zu schützen man nicht müde werden darf.
    Betreten wir also die Wohnung des von den Nazis aus Wien vertriebenen Sigmund Freud im Londoner Stadtteil Hampstead, Maresfield Gardens 20, heute ein Museum. Alles sieht noch genauso aus, als wäre der 1939 verstorbene Psychoanalytiker nur gerade mal eben außer Haus gegangen. Nutzen wir die Gelegenheit. Legen wir uns schnell mal auf seine berühmte Couch. Vielleicht gibt es keinen besseren Ort, um sich die Bilder wachzurufen, mit denen wir den Absurditäten und Widersprüchlichkeiten des gerade vergangenen Jahrhunderts nachspüren. Bilder, mit denen wir an die Hässlichkeit menschlicher Existenz rühren. Und immer wieder nach dem »Warum« oder dem tieferen Sinn unserer jüngsten Geschichte fragen müssen.
    Ein pfauenartig herausgeputzter Kaiser und Senfgaswolken über den elenden Schützengräben von Verdun zum Beispiel. Oder: Die Druckmaschine während der Inflation von 1923, die kaum noch die vielen Nullen auf den Geldscheinen unterbringen kann. Die vermeintlich »Goldenen Zwanziger«, ein Jahrzehnt, in dem Hungerelend, politisches Chaos, Weltwirtschaftskrise, Demokratieverwirrung und Josephine Bakers Bananentanz zu einer merkwürdig beklemmenden Melange zusammenfließen. Der Expressionismus hat in kantiger Frechheit und provokativer Aufgekratztheit die schroffen Widersprüche dieser Epoche künstlerisch verschmolzen.
    Und dann die Dokumentarbilder des sogenannten Dritten Reiches: Parteitags-Tableaus der Vermassung. Tausende von Menschen, degradiert zur geometrischen Figur: Der Einzelne ist nichts, die Volksgemeinschaft alles. Die »Herrenrasse« und der Judenstern – welch haarsträubender Zynismus steckt darin, wenn ausgerechnet eines der schönsten Symbole der Menschheit, der Stern, dazu dient, Menschen als unwert auszusondern? Die Industrialisierung des Mordens in den Konzentrationslagern, die schon am Eingang ihre Opfer mit dem Spruch verhöhnten: »Arbeit macht frei«, markiert den absoluten moralischen Tiefpunkt des 20. Jahrhunderts, der in der Weltgeschichte keine Parallele kennt.
    Aber noch viele andere irritierende Fotografien gehen uns durch den
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