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Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)

Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)

Titel: Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
Autoren: Jörg Maurer
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beim Zeitunglesen die lästige Angewohnheit, die Lippen langsam zu spitzen und sie mit einem kleinen, widerlichen Schmatzgeräusch zu öffnen. Alle paar Sekunden. Und das ist nur eine von vielen ekelhaften Angewohnheiten. Er scheint inzwischen nur noch aus solchen kleinen Scheußlichkeiten zu bestehen, er lässt sich immer mehr treiben, er wird von Woche zu Woche unerträglicher. Wieder dieses Schmatzgeräusch. Eine Welle ohnmächtiger Wut brandet in ihr auf. Aber sofort ein bitterer Gegenstrom: Sie schämt sich dafür, in dieser Routine gefangen zu sein. Sie steht auf und trägt ihren Teller schweigend zum Spülbecken. Dort liegt ein großes, schweres Fleischmesser, an dem noch Bratenreste kleben. Eine Fliege hat sich darauf niedergelassen. Angewidert öffnet sie den Wasserhahn und spült das Messer langsam und sorgfältig ab. Sie lässt das Wasser über die Klinge laufen. Sie dreht das Messer hin und her. Dann hört sie ein Geräusch hinter sich. Ihr Mann ist ins Wohnzimmer gegangen und hat den Fernsehapparat angestellt. Sie spült den Rest des Geschirrs ab, geht dann in die Diele und streift den Mantel über. Die ganze Situation ist so festgefahren, dass sich wohl nur mit einem radikalen Akt etwas ändern lässt.
    »Du gehst noch weg?«, fragt er, und es klingt alles andere als interessiert. Es klingt nicht einmal vorwurfsvoll oder beleidigt. Es klingt mechanisch dahingesagt. Das ist das Schlimmste an dieser siechen Ehe: diese mechanische, desinteressierte Höflichkeit, die jeder noch mühsam aufrechterhält. Sie öffnet die Tür.
    »Ich gehe noch ein bisschen frische Luft schnappen«, sagt sie leise. Sie sagt es so leise, dass er es wahrscheinlich gar nicht hört.

    Solche Ehepaare gibt es. Sie leben unter uns. Wir kennen sie, und wir laden sie zu Grillpartys und Bergtouren ein. Man hört keinen Streit und keine gewalttätigen Auseinandersetzungen, man weiß nicht, warum der Hass so groß und die Situation so aussichtslos ist. Es steckt auch kein dunkles Geheimnis dahinter, keine große Lebenslüge, kein gemeiner Betrug, keine brutale Behandlung, es ist die Ehe selbst, die zu der verzweifelten Lage geführt hat. In den anonymen Betonhöhlen der Städte gibt es mehr solche Ehepaare, als man vermutet. Sie denken nicht an Trennung. Sie denken nicht an Therapie. Sie denken nicht daran, sich von Freunden Rat zu holen. Wenn sie nachts wach liegen, wenn sie tagsüber aus dem Fenster starren, wenn sie ein Kapitel eines Buches immer und immer wieder von vorne beginnen, dann träumen sie von einer endgültigeren Lösung.
    »Herr Richter, ich wollte gar nicht töten«, sagen sie später, »ich wollte nur, dass endlich Ruhe einkehrt.«

    Marlene Schultheiss trat ins Freie. Es hatte gerade aufgehört, zu regnen, der Asphalt der Stadt glitzerte ölig. Der Geruch von altem Frittenfett lag in der Luft, in einem Hauseingang prügelten ein paar Jugendliche auf einen Einzelnen ein, der am Boden lag. Als sie Marlene näher kommen sahen, hielten sie kurz inne und sahen sie herausfordernd an. Sie zog die Mütze ins Gesicht und ging weiter. Keiner der Jugendlichen rannte ihr nach. Wer sich wie Marlene Schultheiss endgültig zu etwas Wichtigem entschlossen hat, strahlt oft eine furchtbare Kraft und Ruhe aus, die schier unangreifbar macht. Marlene Schultheiss hatte die Entscheidung gefällt, ihren Mann auf professionelle Weise aus dem Leben nehmen zu lassen. Professionell – das war sie ihm schuldig. Sie war keine Mörderin, die selbst Hand anlegte, sie hatte vor, Fachleute zu engagieren. Es sollte schnell gehen, Peter durfte nichts spüren. Das wollte sie sich auch etwas kosten lassen. Vermutlich gingen ihre halben Ersparnisse dabei drauf. Sie hatte gehört, dass so eine Sache zwanzigtausend kostete. Aber das war eine Investition in eine freie Zukunft.
    »Wohin gehst du?«, hatte er aus dem Wohnzimmer gerufen. Das machte er doch sonst nie. Ahnte er etwas? Marlene gelangte bald ins Bahnhofsviertel der Stadt. Ampeln blinkten grell, auf den Kanaldeckeln tanzten die Nebelgeister der städtischen Wasserwerke, aus der Bingo-Bar torkelten Betrunkene. Es wimmelte hier von zwielichtigen Gestalten und wackligen Existenzen: offensichtliche Junkies, die dringend Nachschub brauchten. Bettler, Tagediebe, finstere Figuren, die für Geld vermutlich alles machten. Sie waren alle da, und einer von ihnen würde es machen, da war sich Marlene sicher.

    Sie ging zum Bahnhof. Sie betrat die lärmende Riesenhalle und stieg die Treppe zur Bahnhofstoilette
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