Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition)
Autoren: Doris Lessing
Vom Netzwerk:
spart, verzieht das Kind –, und bis zu seinem Tod sprach er nur mit Grausen von den Sonntagen, an denen man zweimal in den Gottesdienst und zur Sonntagsschule musste. Ihm graute die ganze Woche vor diesem Tag, und er weigerte sich jahrelang, auch nur in die Nähe einer Kirche zu gehen. Butlers
Der Weg allen Fleisches
 – so sei seine Kindheit gewesen, sagte er, aber zum Glück habe er in die Felder fliehen können. Er wollte immer Bauer werden, aber sobald er die Schule verlassen hatte, schuf er eine möglichst große Distanz zwischen sich und seinen Eltern und ging in die ihm verhasste Bank. Dort arbeitete er hart, denn damals arbeiteten die Menschen härter als jetzt und waren vor allem auch nach Feierabend aktiv. Er war ein passionierter Sportler, spielte Kricket und Billard für seinen Landkreis, ritt und tanzte und unternahm kilometerlange Fußmärsche, um in anderen Dörfern oder Städten an Tanzveranstaltungen teilzunehmen. Wenn meine Mutter von ihrer Jugend sprach, klang es wie in
Anne Veronica
oder nach den Neuen Frauen bei Shaw; demgegenüber erinnerten die Erlebnisse meines Vaters eher an D. H. Lawrence in
Söhne und Liebhaber
oder
Der weiße Pfau
, junge Leute, emotional und durch die gemeinsame Liebe zur Literatur miteinander verbunden, die sich durch Gespräche und gemeinsam gelesene Bücher weiterbildeten. Er sagte immer, dass er sein Leben von dem Augenblick an, da er seinen Eltern entkommen sei, in vollen Zügen genossen habe, niemand könne ein schöneres Leben gehabt haben als er, zehn Jahre lang. Er war achtundzwanzig, als der Krieg ausbrach. Da habe er dann noch zweimal Glück gehabt, sagte er: einmal, als er wegen einer Blinddarmentzündung aus dem Schützengraben durfte und auf diese Weise die Sommeschlacht verpasste, bei der seine ganze Kompanie umkam, und dann, als ein paar Wochen vor Paschendaele eine Granate sein Bein verletzte, denn auch dort blieb kein Soldat aus seiner Kompanie am Leben.
    Er war schwer krank, nicht nur aufgrund seiner Beinamputation, sondern weil er an etwas litt, das man damals als Kriegsneurose bezeichnete. Er hatte Depressionen, schwere Depressionen, bei denen er sich – wie er sagte – fühlte, als ob er sich in einem kalten, dunklen Zimmer ohne Tür befände, aus dem er nicht hinaus- und in das niemand hineinkommen konnte, um ihm zu helfen. Der »nette Herr Doktor«, zu dem man ihn schickte, sagte, er müsse schlicht durchhalten, ihm könne keine Medizin helfen, aber die Angst werde vergehen. Die »schrecklichen Dinge«, die meinem Vater seelisch zusetzten, waren nicht so außergewöhnlich, wie er zu glauben schien: Alle Menschen wurden von schrecklichen Dingen gequält, und der Krieg hatte sie noch schlimmer gemacht, das war alles. Aber mein Vater war oft in Gedanken bei den Soldaten und erzählte dann von ihnen, wie sie, gelähmt von ihrer Kriegsneurose, außerstande waren, aus ihren Schlammlöchern zu kriechen und sich dem Feind zu stellen, wofür sie wegen Feigheit erschossen werden konnten. »So hätte es mir auch ergehen können«, pflegte er sein Leben lang zu sagen. »Ich habe bloß Glück gehabt.«
    Da lag er also auf der Station meiner Mutter im alten Royal Free Hospital im Osten von London. Er sah, wie unglücklich sie war, als sie erfuhr, dass ihre große Liebe ertrunken war; er wusste, dass man ihr einen Posten als Oberin von St. George, einem angesehenen Lehrkrankenhaus, angeboten hatte, eine große Ehre, denn üblicherweise wurde dieser Posten nur mit älteren Frauen besetzt. Trotzdem entschlossen sie sich zu heiraten. Für ihn bedeutete das keinen Konflikt, aber für sie war es, wie sie später erzählte, eine schwere Entscheidung. Er sagte oft, dass er es ihr verdanke, nicht wahnsinnig geworden zu sein, dass er ihr alles verdanke, denn ohne ihre treue Pflege hätte er das Jahr seiner Krankheit nicht überstanden. Ehen, die aus Sympathie geschlossen werden, seien die besten, fügte er bisweilen hinzu. Sie hingegen genoss ihre Tüchtigkeit und ihren Erfolg und wusste, dass sie eine ausgezeichnete Oberin an einem berühmten Lehrkrankenhaus abgegeben hätte. Aber sie wünschte sich Kinder, um an ihnen wiedergutzumachen, was sie als Kind hatte leiden müssen. So lautete ihre Version.
    Mein Vater war nicht der einzige Soldat, der seinem Land niemals verzeihen konnte, dass es einmal gegebene Versprechen gebrochen hatte: Wie ihn gab es viele in Großbritannien, in Frankreich und in Deutschland, ehemalige Soldaten, die ihre Verbitterung bis zum
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher