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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition)
Autoren: Doris Lessing
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Weltkrieg. Aber 1918  – alle gesunden jungen Männer Europas: tot. 1990 war ich in Edinburgh, wo in einer kalten, grauen Burg lange Reihen von Büchern mit den Namen junger Schotten aufbewahrt werden, die zwischen 1914 und 1918 umgekommen sind. Hunderttausende von Namen. Und in Glasgow – dasselbe. Und in Liverpool wieder. Dokumente des Gemetzels, des Ersten Weltkrieges. Ungelebte Leben. Ungeborene Kinder. Wie gründlich haben wir alle den Schaden vergessen, den dieser Krieg Europa zufügte, aber wir leben noch damit. Wer weiß, wenn »die Blüte Europas« (wie man früher sagte) nicht umgekommen wäre und Kinder und Enkel hervorgebracht hätte, dann müssten wir heute in Europa unser Dasein vielleicht nicht in dieser Mittelmäßigkeit, in diesem Durcheinander und mit dieser Inkompetenz fristen?
    Unlängst wurde in einem Kino in Kilburn
Oh What a Lovely War
gezeigt, jene Satire über die Lächerlichkeit des Ersten Weltkrieges. Als wir aus dem Dunkel auf die Straße traten, stand eine quicklebendige alte Frau am Ausgang und sah jedem direkt ins Gesicht, sodass sie von niemandem unbemerkt blieb. Der Film endet damit, dass zwei Frauen kilometerweit zwischen Grabsteinen und Kriegsgräbern hindurchstolpern, Frauen, die nie wieder Männer zum Heiraten und Kinderkriegen gefunden haben. Diese alte Frau war ohne jeden Zweifel eine von ihnen, und sie wollte, dass wir es sahen. Der Film erzählte von ihr: Das ließ sie uns wissen.
    Dann gab es die Kriegsversehrten, darunter meinen Vater, und die Menschen, deren Kräfte nie zum Tragen kamen, weil ihr Leben durch den Krieg aus der Bahn geworfen wurde – zu ihnen gehörte meine Mutter.
    Jene Reise durch die französischen Dörfer, dann durch Schottland und etliche Städte in England rief in mir die heftigen Emotionen meiner Kindheit wach, Auflehnung und Leid: die Gefühle meiner Eltern. Und Ungläubigkeit, aber das war ein Gefühl, das später kam:
Wie konnte es dazu kommen?
Im amerikanischen Sezessionskrieg, weniger als ein halbes Jahrhundert zuvor, hatte sich gezeigt, was für Blutbäder die neu erfundenen Waffen anrichten konnten, aber wir hatten aus diesem Krieg nichts gelernt. Das ist das schlimmste Vermächtnis aus dem Ersten Weltkrieg: Wenn wir uns vorstellen, dass wir eine Rasse sind, die nicht dazulernen kann, was wird dann aus uns werden? Wenn die Menschen so dumm sind, wie wir es sind, was bleibt uns als Hoffnung? Doch die stärkste Empfindung auf dieser Reise war die alte Finsternis von Angst und Leid. Es war das Gefühl, das ich von meinem Vater kannte, eine sehr kräftige Droge, keine homöopathische, sondern die volle Dosis erwachsenen Leides, und ich frage mich jetzt, wie vielen Kindern aus kriegsgeschädigten Familien das gleiche Gift durch die Adern geronnen ist, noch ehe sie sprechen lernten.
    Wir sind alle vom Krieg geprägt, vom Krieg verbogen und verzogen, aber das scheinen wir zu vergessen.
    Ein Krieg ist nicht mit dem Waffenstillstand zu Ende. 1919 hingen Krankheit und Elend über einem mit Gräbern übersäten Europa und über der ganzen Welt, denn dort wütete die Grippe und brachte fast dreißig Millionen den Tod.
    Früher habe ich zum Spaß gesagt, dass ich dem Krieg mein Leben verdanke, zum Selbstschutz, wenn ich das Gerede über den Krieg satthatte, das einfach kein Ende nehmen wollte. Aber es war kein Spaß. Ich hatte lange das Gefühl, als hätte über meiner frühen Kindheit eine dunkelgraue Wolke gehangen wie Giftgas. Später lernte ich Leute kennen, denen es genauso ging. Vielleicht verdanke ich dem Krieg jenes quälende, panische Fluchtbedürfnis, verbunden mit einer nervösen Aversion gegen die Stelle, wo ich gerade gestanden habe, als könnte dort etwas explodieren oder mich an den Fersen in die Tiefe ziehen.

Kapitel Zwei
    Man kann sich nicht hinsetzen, um über sich selbst zu schreiben, ohne dass sich die langweiligsten rhetorischen Fragen melden. Unsere alte Freundin, die Wahrheit, ist als Erste da. Die Wahrheit … wie viel von ihr erzählen, wie wenig? Es scheint Einigkeit darüber zu herrschen, dass dies das vorrangige Problem des Autobiografen ist, und ganz gleich, wie wir es lösen, wir werden so oder so kritisiert.
    Die Wahrheit über sich selbst zu sagen, wenn man es vermag, ist eine Sache, doch was ist mit der Wahrheit über die anderen? Es fällt mir nicht schwer, über mein Leben bis 1949 zu schreiben, als ich Südrhodesien verließ, weil nur noch wenige Leute übrig sind, die ich mit dem, was ich sage, verletzen kann: Ich
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