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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition)
Autoren: Doris Lessing
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Essen neben einem Mann, der sagte, er könne nie eine Autobiografie schreiben, weil er sich an nichts mehr erinnere. Was, an gar nichts? Nur hier und da eine kleine Szene. Wie, so beschrieb er es, jene kleinen Farbflecken, die bunte Kirchenfenster auf den Steinfußboden werfen. Ich kann mir ein solches Dunkel der Vergangenheit kaum vorstellen. Es auch nur auszuprobieren, hätte mich schrecklich verunsichert, als ob das Gedächtnis das Selbst, die Identität ausmachte – und dabei bin ich sicher, dass es nicht so ist. Vorstellen kann ich mir, in einem Land anzukommen, wo meine Vergangenheit für mich plötzlich vollkommen ausgelöscht ist: Da käme ich zurecht. Das ist schließlich nichts anderes als bei unserer Geburt, wenn wir ohne Erinnerungen auf die Welt kommen, wie man als Erwachsener meint: Dann müssen wir unser Leben erschaffen, unser Gedächtnis.
    »Außerdem«, sagte der Tischnachbar, der trotz seines mangelnden Zugangs zur Vergangenheit vollkommen unbeschädigt und präsent wirkte, »sind die kleinen Farbflecken ständig in Bewegung, weil draußen die Sonne weiterwandert.«
    Stimmt. Sie sind in Bewegung. Man vergisst. Man erinnert sich. Als ich den Stoff für dieses Buch sammelte, tauchten Gesichter und Orte aus der Dunkelheit auf. »Mein Gott! Da bist du also! Hab seit Jahren nicht mehr an dich gedacht!« Nicht nur die Perspektive wechselt, sondern auch das, worauf man schaut.
    Wenn man über ein Thema schreibt – in einem Roman oder Artikel –, lernt man etliches, was man vorher nicht wusste. Ich habe beim Schreiben dieses Buches auch eine Menge gelernt. Wieder und wieder musste ich sagen: »Das war also der Grund? Warum bin ich nicht eher darauf gekommen?« Oder gar: »Moment … So war das gar nicht.« Das Gedächtnis ist nachlässig und faul, nicht bloß selbstgefällig. Und es ist nicht immer selbstgefällig. Mehr als einmal durfte ich feststellen: »Ich war gar nicht so schlecht, wie ich dachte«, aber auch, dass ich mir noch weniger gefiel.
    Und dann – das ist womöglich das Allertrügerischste – erfinden wir unsere Vergangenheit. Man kann seinen Verstand regelrecht dabei beobachten, wie er ein kleines Fragment einer tatsächlichen Begebenheit nimmt und daraus eine Geschichte spinnt. Nein, ich glaube nicht, dass nur Geschichtenerzähler es so machen. Eltern sagen: »Wir sind mit dir ans Meer gefahren, und du hast eine Sandburg gebaut,
weißt du das nicht mehr?
 – guck, hier ist das Foto.« Und unverzüglich konstruiert das Kind aus den Worten und dem Foto eine Erinnerung, die sich ihm einprägt. Trotzdem gibt es Augenblicke, Vorfälle, reale Erinnerungen, denen ich traue. Zum Teil deshalb, weil ich einen beträchtlichen Teil meiner Kindheit damit zugebracht habe, Augenblicke im Kopf »festzuhalten«. Offensichtlich musste ich um eine eigene Realität ringen, gegen das Drängen der Erwachsenen, die mir die ihre aufzwingen wollten. Man hat Druck auf mich ausgeübt, um mich zu dem Eingeständnis zu bewegen, dass etwas, von dem ich wusste, dass es stimmte, nicht wahr sei. Vermute ich. Warum hätte ich mir sonst jahrelang vorsagen sollen:
Das
ist die Wahrheit, so war das, halt es fest, lass es dir nicht ausreden.
    Wozu überhaupt eine Autobiografie? Zum Selbstschutz: Es entstehen bereits die ersten Biografien. Das ist beunruhigend, als ob man im angenehmen Halbdunkel eine ebene und oft langweilige Straße entlanggeht, aber weiß, dass jeden Moment ein Suchscheinwerfer aufleuchten kann. Ja, natürlich gibt es gute Biografen, in Großbritannien allemal, denn wir genießen derzeit ein goldenes Zeitalter der Biografien. Was ist besser als eine wirklich gute Biografie? Nicht viele Romane.
    1992 erfuhr ich, dass sich fünf amerikanische Biografen mit mir beschäftigten. Von einem hatte ich noch nie gehört. Ein anderer, so erzählte mir ein Freund aus Simbabwe, »sammele Material« für eine Biografie. Bei wem? Bei Leuten, die längst tot sind? Eine Frau, die ich zweimal gesehen habe, wobei sie mir einmal betont beiläufig Fragen stellte, hat mir gerade mitgeteilt, dass sie ein Buch über mich geschrieben habe, das kurz vor der Veröffentlichung stehe. Eine weitere kann höchstens dabei sein, aus angeblich autobiografischen Elementen in meinen Romanen und zwei kurzen Monografien über meine Eltern ein Buch zusammenzubrauen. Wahrscheinlich auch aus Interviews, aber die sind immer voll von Fehlinformationen. Es ist erstaunlich, dass Sie ein paar Stunden mit einem Reporter zubringen können, der
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