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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition)
Autoren: Doris Lessing
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Versprechungen habe ich das gemessen, was tatsächlich geschah? Und damit wären wir bei dem zweiten Gesichtspunkt, der mich beschäftigt und eng mit dem ersten verknüpft ist.
    Wie kommt es, dass ich immer mit Leuten zusammenlebe, die automatisch gegen Autorität, gegen die Regierung sind, die selbstverständlich davon ausgehen, dass alle Obrigkeit schlecht ist, und die der Regierung, dem Establishment, der herrschenden Klasse, dem Stadtrat, dem Schuldirektor oder der Direktorin zweifelhafte oder korrupte Motive unterstellen? Diese Haltung wird von den meisten so stark verinnerlicht, dass sie erst bei dem Versuch, sie abzulegen, merken, was für ein großer Teil des eigenen Lebens davon bestimmt wird. Erst diese Woche war ich mit einer Gruppe von Leuten unterschiedlichen Alters zusammen, alles Linke oder ehemalige Linke, und jemand erwähnte zufällig, dass die Regierung etwas vorhabe – etwas ziemlich Gutes, aber darum geht es gar nicht –, und sofort verzogen alle spöttisch das Gesicht. Automatisch. Auf Knopfdruck. Diese Miene ist wie ein höhnisches oder hämisches Grinsen, das besagt:
Was kann man von denen schon erwarten?
Es kann nur Ausdruck einer Überzeugung sein – einer Überzeugung, die so tief sitzt, dass sie nicht mehr zu erkennen ist –, nämlich der Überzeugung, dass ein Versprechen gegeben und nicht eingelöst worden ist. Vielleicht in der Französischen Revolution? Oder in der Amerikanischen Revolution, die das Streben nach Glück zum Recht erhoben und damit die Vorstellung in die Welt gesetzt hat, das Glück sei so leicht zu haben wie Kuchen aus dem Supermarkt? Millionen von Menschen verhalten sich heutzutage, als wäre ihnen das Versprechen gegeben worden – von wem? Wann? –, dass das Leben immer freier, ehrlicher, bequemer, auf jeden Fall besser werden müsse. Hat die Werbung uns immer fester auf diese Erwartungshaltung eingeschworen? Dabei lässt sich aus der Geschichte keineswegs ableiten, dass wir etwas anderes erwarten dürfen als Krieg, Tyrannen, Seuchen, schlechte Zeiten, Katastrophen und dass gute Zeiten immer etwas Vorübergehendes sind. Vor allem lehrt uns die Geschichte, dass nichts lange so bleibt, wie es ist. Wir erwarten Gold am Fuße von Regenbogen, die unablässig neu entstehen. Ich habe das Gefühl, einer Massenillusion oder einem Wahn verfallen gewesen zu sein. Jedenfalls aber Massenüberzeugungen und Glaubenslehren, die jetzt genauso irrsinnig wirken wie die Tatsache, dass gottesfürchtige Kreuzfahrer jahrhundertelang in den Vorderen Orient gezogen sind, um über die Ungläubigen herzufallen.
    Ich habe kürzlich einen Artikel von einem Historiker gelesen, der behauptet, das häufig zur Verachtung gesteigerte Misstrauen gegen Regierung und Obrigkeit rühre vom Ersten Weltkrieg her, von der Unfähigkeit und Dummheit der Generäle, vom Tod der jungen Männer in Europa.
    Der Moment, der mir am meisten zu schaffen macht, wenn Journalisten und Historiker zu mir kommen, um nach der Vergangenheit zu fragen, ist der Augenblick, in dem ich ihnen ansehe, dass sie fragen möchten: Aber wie
konnten
Sie dieses oder jenes nur glauben oder tun? Fakten sind leicht zu vermitteln. Schwer zu fassen ist dagegen die Atmosphäre, in der sie entstehen konnten. »Sehen Sie, wir glaubten …« (Da müssen Sie aber ziemlich dumm gewesen sein!) »Nein, Sie verstehen mich nicht, es waren so fiebrige Zeiten …« (Ach, Fieber nennen Sie das!) »Ich weiß, dass es schwer zu verstehen ist, wenn man nicht in der vergifteten Atmosphäre von damals steckt.«
    Und noch eine untergeordnete Frage, allerdings von allgemeiner Bedeutung: Womit ist die Tatsache zu erklären, dass ich mein Leben lang das Kind war, das laut sagt, dass der Kaiser nackt ist, während mein Bruder nie, nicht ein einziges Mal, eine Autorität angezweifelt oder kritisiert hat?
    Wohlgemerkt, die Begabung, die Nacktheit des Kaisers zu erkennen, kann durchaus bedeuten, dass man andere Qualitäten nicht wahrnimmt.
    Ich will versuchen, dies zu einem ehrlichen Buch zu machen. Doch wie sähe es wohl aus, wenn ich es mit fünfundachtzig noch einmal schreiben sollte?

Kapitel Drei
    Ein winziges Ding unter trampelnden, rempelnden, rücksichtslosen Riesen, die unangenehm riechen, die sich mit großen, hässlichen, behaarten Gesichtern zu dir herunterbeugen und lange, gelbe Zähne entblößen. Ein Fuß, den du im Auge behältst, während du gleichzeitig versuchst, alle anderen Gefahren nicht aus dem Blick zu verlieren, ist beinahe so groß
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