Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unter dem Teebaum

Unter dem Teebaum

Titel: Unter dem Teebaum
Autoren: Ines Thorn
Vom Netzwerk:
Tochter. »Ich bin wirklich sehr stolz auf dich. Du hast unserem Namen alle Ehre gemacht.«
    Amber lachte. »Warte ab, bis du meine Diplomarbeit gelesen hast. Ich bin nicht sicher, ob du danach noch genauso denkst.«
    Walter nahm die Tasche und legte den anderen Arm um die Schulter seiner Tochter. Langsam gingen sie nebeneinander die Auffahrt entlang zum Gutshaus. Amber seufzte glücklich. Sie war wieder zu Hause. Zu Hause auf dem Gut und vor allem bei ihrem Vater. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte er sich mithilfe der schwarzen Kinderfrau um sie gekümmert. Er war es, dem sie den ersten Liebeskummer anvertraut hatte, er war es, der ihr den ersten Lippenstift aus der Stadt mitgebracht hatte, und er war es auch, der ihr die Welt und das Leben erklärt hatte. Von Anfang an hatte er mit Amber gesprochen wie mit einem erwachsenen Menschen. Er hatte sie an seinen Gedanken teilhaben lassen und sie nicht wie eine Tochter, sondern eher wie eine Gefährtin behandelt. Er hatte ihr alle Liebe und Zärtlichkeit geschenkt, deren er fähig war, und Amber dankte es ihm mit einer ebenso starken und tiefen Zuneigung.
    »Willst du mir Angst machen?«, fragte Walter Jordan lachend, dann winkte er Aluunda, der schwarzen Haushälterin, zu, die in der Küchentür stand und sich die Hände an einem Tuch abwischte, das sie um den Bauch geschlungen hatte.
    »Amber ist da!«, rief er. »Wir müssen uns vorsehen, Aluunda. Sie wird hier alles auf den Kopf stellen. Pass bloß auf deine Küchenlöffel auf.«
    Aluunda winkte fröhlich zurück, dann riss Amber sich los und stürzte zu der alten schwarzen Frau, die ihr so viele Jahre lang die Mutter ersetzt hatte.
    »Ich habe es geschafft«, jubelte sie, als sie Aluunda um den Hals fiel.
    »Ja, das hast du«, bestätigte die Frau und drückte das Mädchen, das einen halben Kopf größer war als sie, an die Brust. »Aber das wirklich Schwierige liegt noch vor dir.«
    Inzwischen war Walter herangekommen. »Deck den Tisch mit dem feinsten Porzellan, Aluunda. Und hol den besten Sekt aus dem Keller. Sag allen Bescheid. Wir wollen heute Abend feiern.«
    Aluunda nickte lächelnd. »Ich habe schon alles vorbereitet, Master«, sagte sie. »Der Sekt steht kalt, Ambers Lieblingsschokoladenkuchen ist fertig, und im Ofen schmort ein ordentlicher Braten.«

2
    Jonah wartete in der Dunkelheit unter dem Teebaum, und sein dunkles Gesicht zeichnete sich vor der fast weißen Rinde deutlich ab. Er stand still, doch Amber schien es, als wäre sein Körper unablässig in Bewegung. Wie bei einem Tanz, der sich im Inneren abspielt und dessen gewaltige Kraft durch die Körperwände hindurch nach außen dringt.
    Jonah tanzte immer. Er lief nicht durch die Weinberge, setzte nicht einen Fuß vor den anderen, sondern bewegte alle Muskeln gleichzeitig. Seine Arme schwangen rhythmisch neben seinem Körper, Hals und Kopf hoben und senkten sich in stolzer Anmut, und die schlanken, dunklen Beine glitten so leicht über den Boden, als würden sie schweben. Auch Jonahs Hände tanzten. Sprach er, so unterstrich er jedes Wort mit einer fließenden Geste.
    Als er Amber kommen sah, lachte er mit blitzenden weißen Zähnen, breitete die Arme aus und lief auf sie zu. Auch Amber rannte und lachte, rannte in seine Arme, warf sich an seine Brust, legte die Hände um seinen Nacken und bedeckte sein Gesicht mit tausend Küssen.
    »Endlich, endlich, endlich«, sagte sie und ließ ihn los. Er nahm ihr Gesicht behutsam zwischen seine Hände und berührte jeden Zentimeter ihrer Haut, als wäre er blind. Amber genoss die Liebkosungen. Sie schloss die Augen, schmiegte ihre Wange in seine warme Hand. Als sein Finger über ihre Lippen glitt, dachte sie für einen Augenblick an Steves harten Mund, doch dann verscheuchte sie den Gedanken, öffnete die Augen und tastete Jonahs Gesicht mit Blicken ab.
    »Ich habe dich so vermisst«, sagte sie. »Jeden Tag habe ich mich nach dir gesehnt. Ich habe stundenlang am Fenster des Internats gestanden und in der Ferne die Hügelkuppen von Barossa Valley gesucht.«
    Jonah antwortete: »Ich habe dich in meine Träume gesungen und ein Stück deiner Seele bei mir getragen.«
    Er kramte in der Hosentasche und hielt Amber seine geöffnete Hand hin. »Hier, sieh nur!«
    Amber lächelte. Im Frühjahr hatte sie ihm aus den Blüten des Teebaumes einen kleinen Kranz geflochten. Er hatte ihn getrocknet und bei sich getragen.
    »Jetzt bin ich wieder da.«
    »Ja. Jetzt bist du wieder da, und meine Seele kann in meinen Körper
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher