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Unter dem Räubermond

Unter dem Räubermond

Titel: Unter dem Räubermond
Autoren: Jewgeni Lukin
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zusammenhängend …«
    Der Richter, der aufgemerkt hatte, entspannte sich wieder, wobei er, wie man anmerken muss, etwas enttäuscht wirkte. »Weiter«, knurrte er ärgerlich.
    »Ich bin hingegangen, sage: Geh raus, sing auf der Straße, ich habe hier ein anständiges Geschäft … Und da hat er eine Fliege gefangen …«
    Der ehrwürdige Ar-Maura runzelte mürrisch die Stirn und schüttelte leicht den Kopf. Der Besitzer des Kaffeehauses stockte.
    »Weiter!«, stieß der Richter hervor.
    »H-hat eine Fliege gefangen und geschrien, dass sie sechs Beine hat, und nicht vier, dass ich absichtlich gesetzwidrige Fliegen züchte … Und dann hat er angefangen, ihr die überzähligen Beine auszureißen … Und dann hat er noch gesagt, dass ich ein Feind des Herrschers bin, weil ich gesetzwidrige Fliegen züchte und …«
    Was vom Gesicht des ehrwürdigen Ar-Maura zu sehen war, drückte größte Verärgerung aus, zugleich aber eine gewisse Ratlosigkeit. Der Richter räusperte sich, schaute sich um und schnippte mit den Fingern. Auf einem Treppchen mit Geländer kam eilends der junge, schwächlich wirkende Sekretär (auch eine Nacktfresse) herabgelaufen und erstarrte in einer angedeuteten Verbeugung.
    »Also, geh nachschauen«, sagte der Richter unzufrieden, nachdem er noch ein bisschen gekrächzt hatte. »Buchstabe Kor, Abschnitt neun, glaub ich. ›Von den Fliegenden und Gefiederten.‹«
    »Was genau?«, erkundigte sich der Sekretär respektvoll.
    »Oder weißt du es vielleicht auswendig …? Wie viel Beine soll eine Fliege haben?«
    Der Sekretär hob den Blick zu dem reichlich befeuchteten Blattwerk. Ein großer Tropfen löste sich und zerstob auf seiner hohen, blassen Stirn. Freude erhellte das schamlos rasierte Gesicht des jungen Mannes, und mit halb geschlossenen Lidern deklamierte er: »Was aber die fliegenden Insekten betrifft, so sollen sie zwei durchsichtige Flügel zum Fliegen und vier Beine zum Gehen haben …«
    »Ja …«, sagte der Richter ein wenig bedrückt. »Schön … Du kannst gehen …«
    Ohne das durchbrochene Geländer zu berühren, eilte der Sekretär selbstzufrieden die Treppe in den ersten Stock hinauf, wo er die Kopien der Edikte aufbewahrte.
    Eine Minute lang versank der Richter in brütendes Nachdenken. Mit unguten Vorgefühlen hielten der Kläger und die Zeugen den Atem an. Der Angeklagte seufzte und trat von einem Fuß auf den anderen.
    »Es ist eine Freude zu sehen«, begann Ar-Maura schließlich ohne Eile zu sprechen, und seine Stimme troff vor Spott, »wie eifrig die Untertanen des Herrschers darauf achten, dass jedes seiner Edikte genauestens ausgeführt wird. Selbst die Anzahl der Beine einer Fliege entgeht nicht ihrem scharfen Blick. Wenn ihr vier ein bisschen klüger wärt, würde ich argwöhnen, dass ihr euch über das Gesetz lustig macht. Da jedoch noch kein Edikt gegen Dummheit erlassen wurde, könnt ihr davon ausgehen, dass ihr billig davonkommt. Ich bestimme: Die Gerichtskosten sind auf den Kläger und die Zeugen aufzuteilen, damit sie in Zukunft den Richter nicht grundlos behelligen. Was aber dich angeht, junger Mann …« Ar-Maura wandte sich mit dem ganzen massigen Körper dem Angeklagten zu. »Wir begegnen einander in letzter Zeit etwas zu oft. Ich weiß noch, wie sie dich vor anderthalb Monden wegen irgendwelcher Streiche herbrachten. Darum wirst du die Nacht in der Grube verbringen, und morgen hast du von hier zu verschwinden!« Er machte eine Pause, als tue es ihm leid, so milde geurteilt zu haben, dann nickte er den Wächtern zu. »Diese drei – zur Kasse – und den Schlaukopf erst einmal hier einschließen, im Haus. Ich werde mich heute noch mit ihm unterhalten.«
    Der Kläger und die Zeugen atmeten erleichtert auf. Man konnte sagen, sie hatten Glück gehabt … Was indes den Angeklagten betraf, so war der anscheinend anderer Ansicht. Zumindest wirkte er bedrückt und sogar ein wenig gekränkt.
    Die drei letzten Urteile musste er auch abmildern. Sollten sie denken, der gestrenge Ar-Maura habe heute einfach gute Laune. Schließlich war er auch ein Mensch …
    Nachdem er schließlich einen beim Diebstahl ertappten Landstreicher nur dazu verurteilt hatte, eine Staatsgaleere nach Sibra und zurück zu treten, erhob sich Ar-Maura schwerfällig von dem hohen geschnitzten Stuhl und ging leicht hinkend ins Haus. Er bereitete dem Sekretär und den Dienern eine freudige Überraschung, indem er sie bis zum Abend entließ. Lächelnd dachte er daran, dass dieser Tag in die Legende
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