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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich
Autoren: Maarten 't Hart
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Links an der Damstraat und auf der anderen Seite an einer fensterlosen Mauer brannten zwei Gaslaternen, und vor allem, wenn es neblig war, schien es, als sei das Gaslicht flüssig. Der ganze Platz löste sich in ein perlgraues, dunstiges Zwielicht auf, und alle Konturen verschwammen. Dann hatten nicht einmal die Schatten mehr klar umrissene Ränder. Die beiden Glaskugeln einer der beiden Gaslaternen dort gaben zischende Geräusche von sich, und wenn ich genug Mut gefasst hatte, um mich kurz darunterzustellen, kam es mir so vor, als spräche jemand in einer unverständlichen himmlischen Sprache zu mir. Nichts ist, wie ich heute weiß, schöner als ein in Gaslaternenlicht getauchtes Sanierungsgebiet bei Nieselregen. Der riesige Raum des Damplein mit den beiden Laternen, deren Schatten sich in der Mitte des Platzes überlappten, war abends fast wie das Totenreich selbst. Allein hätte ich mich nach dem Abendessen niemals dorthin gewagt, doch mit dem Mädchen von nebenan, Toos Koek, die sich niemals fürchtete, rannte ich manchmal blitzschnell über den Platz und kam erst in der Damstraat wieder zu Atem.
    Der Damplein war ein fast quadratisches Viereck, in das vier Straßen mündeten und auf dem es, von unserer Straße aus gesehen, nur fensterlose Mauern gab. Links stand noch eine Häuserreihe, und auf der Ostseite fing ganz unvermittelt das Weideland an. Um die Sanierung unseres Viertels vorzubereiten, hatte man dort bereits ein neues Wohngebiet errichtet, mit einer idiotisch weißen Kirche des Niederländischen Protestantenbundes, in der – wie mein Vater immer sagte – die Gottheit Christi geleugnet wurde.
    An einer der blinden Mauern stand ein grünes Verteilerhäuschen, auf dem, passend zum Charakter des Damplein, fürchterliche Drohungen angebracht waren. Auf der gegenüberliegenden Seite gab es zwei Geschäfte. Das eine war eine Metzgerei, wo das Fleisch – obwohl der Metzger unserer Kirche angehörte – weniger gut war als das des reformierten Metzgers in unserer Straße. In dem anderen Damplein-Laden wurde nur ein einziger Artikel verkauft: Schiffszwieback. Obwohl die Schiffe, die den Hafen verließen, dieses Produkt kistenweise einschlugen, konnte man auch für fünf Cent einen einzigen Schiffszwieback kaufen. Ein solcher Zwieback war erst genießbar, nachdem man ihn einen ganzen Nachmittag lang in kaltem Tee aufgeweicht hatte. Manchmal gab es unerfahrene Kinder, die vom Hoofd herüberkamen, einen Zwieback kauften und sofort hineinbissen. Die spuckten dann in der Regel anschließend ihr halbes Milchgebiss auf die Straße.
    Im Haus Damplein Nummer 1 – es gab keine Nummer 3 oder 5, wohl aber ein paar gerade Hausnummern auf der anderen Seite – wohnte mein Großvater. In Anbetracht der Tatsache, dass er eine große Leidenschaft hatte, nämlich Dame zu spielen, fand ich es logisch, dass er dort wohnte. Die Welt war übersichtlich und gut geordnet. Schade nur, dass auch Piet Sluys dort um die Ecke wohnte. In ebendieser Straße wohnte auch mein Onkel Klaas, ebenfalls ein leidenschaftlicher Damespieler. Daher der Name – Damstraat.
    Der Damplein war kein Platz, auf dem Menschen stehen blieben, um ein Schwätzchen zu halten. Man stellte dort kein Fahrrad ab. Man überquerte ihn einfach und verschwand in den angrenzenden Straßen. Darum wunderte es mich, als irgendwann im Jahr 1952 auf einmal ein Auto auf dem Platz anhielt. Ein Auto war damals noch etwas ganz Außergewöhnliches. Niemand sprach von einem Auto, sondern alle sagte nur »Luxusauto«. Normale Autos waren Lastwagen wie der Kohlenlaster von van Heyst. Dieses Luxusauto, in meinen Augen ein mögliches Vorzeichen der bevorstehenden Sanierung, war also eine unglaubliche Sehenswürdigkeit. In null Komma nichts drängelten sich Dutzende Jungen in meinem Alter um den Wagen, die den Mann, der daraus ausstieg, anstarrten, als wäre er der wiedergekehrte Christus. Noch heute sehe ich vor mir, wie er sich aus dem Wagen zwängt. Endlich steht er auf der Straße, er betrachtet die vielen Jungen und richtet dann plötzlich den ausgestreckten Zeigefinger auf mich und sagt: »Du wirst später auch einmal genug Geld haben, um ein Auto zu fahren.« Ich hatte kaum genug Zeit, die unglaubliche Bedeutung dieser Worte zu mir durchdringen zu lassen, da stürzte sich auch schon Piet Sluys auf mich und fing an, mein rechtes Ohr umzudrehen.
    Einmal im Jahr, am Königinnentag, wurde der Platz in einen Ort verwandelt, an dem man sich tatsächlich eine Weile aufhalten
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