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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich
Autoren: Maarten 't Hart
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Gemüsehändlern, Milchhändlern, Scherenschleifern und Petroleumhändlern aus Angst vor dem steilen Abhang ihre Pferdeäpfel fallen. Deshalb leben auf den Dächern der umliegenden Häuser konkurrierende Spatzenpopulationen. Hinaufgehende Pferde schaffen es manchmal nicht bis oben, hinabgehende Pferde werden auf der Wip des Öfteren kopfscheu, und ebendiese Wip, das eigentliche Zentrum der Stadt, wird sich später als uneinnehmbare Barriere für diejenigen Händler erweisen, die sich den Luxus eines kleinen einachsigen Schleppers geleistet haben.
    Neben der Wip liegt die Mündung des Zuidvliet, die Wateringersluis. Noordvliet und Zuidvliet verlaufen parallel zueinander in nordöstlicher Richtung. Wer oben auf der Wip oder den Steenen Trappen steht, kann die Vliete bis zum Horizont sehen. Von beiden Stellen aus erblickt man einen langen geraden Wasserstreifen, der zuerst von Häuserreihen gesäumt und von zwei Brücken überspannt wird. Weiter weg fehlen die Häuser, weshalb der Wasserstreifen dort viel mehr Licht fängt. Tatsächlich wirkt der vom grünen Polderland umgebene helle Wasserstreifen näher am Betrachter als der dunkle Teil zwischen den Häusern. Gleichzeitig sieht es so aus, als steige der Streifen in Richtung Himmel, und das verschafft dem Auge und der Seele ein Gefühl des Friedens und der Geborgenheit. Es gibt auf der ganzen Welt kaum einen schöneren Anblick. Trotzdem hat die Gemeindeverwaltung beschlossen, das ganze Viertel unterhalb des Deichs rund um die Vliete zu sanieren.

Das Paradies

Das Sanierungsgebiet
    Wir wohnten unter dem Deich, doch wir wussten nicht, dass man uns schon von der Landkarte gestrichen hatte. Wir liebten unser verfallenes Viertel. Ich fand, kein Viertel konnte sich messen mit unserem Zuhause rund um die Vliete. Obwohl es weder Gärten noch Blumen gab, hießen die Straßen hier Tuinstraat oder Bloemhof. Und mehr noch, sie hatten außerdem Beinamen, etwas, das es, soweit ich wusste, in keiner anderen Stadt gab. Nie hatte ich in einem Buch von Straßen gelesen, die Beinamen gehabt hätten. »Vielleicht«, dachte ich als etwa achtjähriger Junge stolz, »gibt es auf der ganzen Welt nur eine Stadt, in der die Straßen Beinamen haben, und das ist die Stadt, in der ich geboren bin.« Dies ging mir durch den Sinn, wenn ich durch die Hoekerdwarsstraat stiefelte, die von allen nur Stronikaadje genannt wurde. Es fiel mir wieder ein, wenn ich in der Lijnstraat zum Friseur ging; die Lijnstraat war so lang gestreckt, dass sie unter dem Namen Langestraat firmierte, und dass, obwohl auch die Bewohner der Sandelijnstraat behaupteten, ihre Straße heiße Langestraat. Beide Straßen mündeten in die St. Aagtenstraat, die aber niemand so nannte. Diese Gasse mit ihren fensterlosen Mauern hieß ’t Peerd z’n Bek, dem Pferd sein Maul. Und allein dieser Beiname sorgte dafür, dass ich anschließend in gestrecktem Galopp über das Kopfsteinpflaster der Straße rannte. Auf diese Weise war ich nie lange genug dort, um mich zu fürchten. »Vielleicht«, überlegte ich, »heißt die St. Aagtenstraat ja ’t Peerd z’n Bek, weil dort gleich um die Ecke die katholische Kirche ist.« Die katholische Kirche war, das wusste ich, aufgrund einer Verordnung aus dem Jahr 1787 außerhalb des bebauten Gebiets errichtet worden. Die Kirche durfte nicht wie eine Kirche aussehen, und sie durfte auch keine direkte Verbindung zu den öffentlichen Wegen haben. Deshalb lag sie, jenseits einer freien Fläche und hinter einigen hohen Gebäuden versteckt, auf der Grenze zum Nachbarort Maasland. Das hatte mir der Vater eines Klassenkameraden erzählt, der bei sich im Wohnzimmer einen Stadtplan an der Wand hängen hatte. Auf diesem Plan waren mit Fähnchen die Häuser der zweihundertvierzig katholischen Familien markiert, die es in der Stadt gab.
    »Wenn Notzeiten kommen«, sagte er, »und wenn der Herzog von Alba das Land wieder bedroht, weiß ich, wo sie wohnen, und wir können sie umgehend aus der Stadt vertreiben.« Dann schwieg er einen Moment und sagte: »Zurzeit verhalten sie sich ruhig, aber wenn sich ihnen die Gelegenheit bietet, sind wir alle dran. In ihren Hintergärten sammeln sie schon das Bruchholz für neue Scheiterhaufen.«
    Und wenn er ausgesprochen hatte, schaute er zu seiner Frau und fragte: »Und weißt du, wer Vorsitzender des Blutrats wird?«
    »Jan de Quay«, erwiderte seine Frau.
    Da ich Willem Wijcherts von Willem Gerrit van de Hulst gelesen hatte und Schele Ebbe kannte, der in diesem Buch
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