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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich
Autoren: Maarten 't Hart
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Hinter dem Reihenbau erstreckt sich die Maaskant, ein Gebiet voller Schilf und Ranken. Der Begriff Maaskant hat in der Stadt eine merkwürdige Nebenbedeutung bekommen. »Mit dir würd ich gerne zur Maaskant gehen« bedeutet: »Ich finde dich nett.« Und: »Sie gehen zusammen zur Maaskant« heißt: »Die beiden sind ein Paar.« Was anderswo eine »Stichprobe« genannt wird, nennt man hier ein »Maaskantje«, was gemeinhin mit »Kantje« abgekürzt wird, und das Resultat von so einem Maaskantje wird »Kantertje« genannt. Wie die normalen Kinder auch werden die Kantertjes beim Standesamt in der Roten Villa angemeldet, die nicht weit vom Bahnübergang des Schanshoofds entfernt liegt.
    Beim Schanshoofd liegt ein Motorboot von Dirkzwagers Schiffsagentur im Hafen, das ausläuft, wenn ein großes Schiff vorbeikommt. Von den Ozeanriesen werden Flaschen oder Köcher mit Angaben über Schiff und Zielhafen in das längsseits fahrende Boot hinuntergelassen. Offenbar ist das Abholen dieser Informationen ein so lukratives Geschäft, dass Dirkzwager in den Fünfzigerjahren gleich neben dem Schanshoofd ein beeindruckendes, aus beigefarbenen Steinen gebautes, halbrundes Büro errichten lassen konnte. Ob dies wohl das Gebäude ist, von dem K. Norel in seinem Buch Auf großer Fahrt sagt: »Der Pfefferstreuer ist weiß im hellen Licht«?
    Zwischen den Gleisen und dem Deich liegen, abgesehen von dem Viertel neben dem Friedhof, das wir schon früher besucht haben, noch zwei Viertel und eine Insel. Von der Mühle De Hoop aus erstreckt sich bis zum Hafen ein Wohngebiet, das aus einer Hauptstraße, der Fenacoliuslaan, und sieben kurzen Nebenstraßen besteht, die alle am Gelände der Kistenfabrik De Neef & Co. enden. Der schrille, durchdringende Pfiff der mit Dampf angeblasenen Fabrikspfeife sorgt dafür, dass alle Bewohner der Stadt um sieben Uhr morgens senkrecht aus den Betten hochschrecken. Sobald der Pfiff verklungen ist, sind alle hellwach. Auch der Beginn und das Ende der Mittagspause wird durch die Pfeife markiert.
    Rings um das Fabrikgelände von De Neef & Co. verläuft ein Wassergraben, der unglaubliche Reichtümer birgt. Wenn man seinen Kescher nur ganz beiläufig durchs Wasser zieht, fängt man sofort etwa zwanzig kleine Teichmolche, zwei Wasserskorpione, eine Wassernadel, Dutzende Süßwassergarnelen, Wasserspinnen, Eintagsfliegen, Wasserasseln, zwei oder drei Larven des Gelbrandkäfers, einen ausgewachsenen Gelbrandkäfer, einen Großen Kolbenwasserkäfer (aufpassen, der beißt) und unzählige wimmelnde Rückenschwimmer.
    Zwischen der Fenacoliuslaan und dem Hafen liegen der Wijde Slop und die Taanstraat, die beide über Schlitze im Pflaster verfügen, in die bei Hochwasser Flutplanken gesteckt werden können. Und parallel zur Fenacoliuslaan verläuft noch der Zandpad, der durch den Zure Vissteg mit dem Hafen verbunden ist. Auch diese Gasse kann durch Flutplanken gesichert werden.
    Auf der anderen Seite des Hafens liegt hinter den Lagerhäusern ein Viertel, das Stort genannt wird. Dabei handelt es sich um einen ehemaligen Polder, den man zugeschüttet und anschließend bebaut hat. Zwischen dem Stort, dem Deich und dem Hafen liegt eine Insel, die Schans heißt. Von 1629 bis 1639 wurde auf Schans die Grote Kerk errichtet, an die 1649 noch ein Turm angebaut wurde. Die Insel wird daher auch Kerkeiland genannt. 1732 wurde die Kirche mit der nicht genug zu bewundernden Garrels-Orgel ausgestattet, ein Ereignis, das merkwürdigerweise, obwohl die Stadt nie einen Autor oder Dichter von Bedeutung hervorgebracht hat, eine kurzfristige literarische Explosion nach sich zog. Pieter Schim dichtete »Die Orgel mit Davids Harfe vermählt«, und auch seine beiden Söhne, Hendrik und Jacob Schim, veröffentlichten Gedichte, die in dem Band Gesänge anlässlich der Einweihung der Maassluiser Orgel zu finden sind. Das Instrument inspirierte auch den Dichter Rijkje Bubbezon zu einem Vers.
    Am 1. Januar des Jahres 1835 erschien Huiberdina Quack ein Engel und teilte ihr mit, dass die Orgel am großen und erlauchten Tag der Wiederkunft nicht durch das Feuer vernichtet, sondern Pfeife für Pfeife, in Stroh verpackt und von Engelflügeln in den Himmel gebracht werden würde. Dort werde sie vorerst eingelagert, um später in einer Replik der Grote Kerk auf der Neuen Erde wieder aufgebaut zu werden. Und in dieser Kirche dürften dann die Organisten, kraft ihres Amtes allesamt in die Ewigkeit eingegangen, abwechselnd spielen, in Anbetracht der großen
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