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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich
Autoren: Maarten 't Hart
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pyramidenförmig aufgestapelt werden. Diese Röhrenpyramiden bilden an der Ostseite von Key & Kramer die Grenze zur Müllverbrennungsanlage, die schlauerweise hinter dem strengen Dieselpumpwerk versteckt worden ist. An diesem Pumpwerk vorbei verläuft ein im Zickzackmuster gepflasterter Weg über den breiten Deich. Da aller Sand zwischen den Steinen weggeschwemmt worden ist, ertönt ein lautes Holpern und Klappern, wenn ein Fahrrad die Stadt verlässt. Im Chor rufen die Klinker: »Geh nicht weg, verlasse nicht die Stadt, woanders herrscht nur Elend.«
    Auf der Südseite wird das Firmengelände von der Scheur begrenzt, einem kleinen Fluss, der in der Stadt einfach nur Maas genannt wird, während sich auf der Westseite ein Viertel anschließt, das Hoofd heißt und in dem Wasserheizer de Vries seine Kunden empfängt. Insgesamt umfasst das Hoofd zehn nach lokalen Widerstandskämpfern aus der französischen Zeit und nach Helden aus den Burenkriegen benannte Straßen. Da aber vier der zehn Straßen nur die Verlängerung anderer Straßen sind, gibt es eigentlich nur acht. Geht man näher heran, entpuppt sich ein massives Bauwerk mit echten Zinnen als Wasserturm, und dahinter, auf der Grenze zwischen dem Hoofd und der Scheur, liegt das dreieckige Schwimmbad, das durch einen Basalthang von der Maas abgetrennt wird und durch eine Rohrleitung sein Badewasser kurzerhand aus dieser bezieht.
    Im Sommer ist das Schwimmbad bereits um sechs Uhr am Morgen geöffnet. Dabei gilt zu beachten, dass an dem einen Tag die Jungen von sechs bis acht schwimmen dürfen und am nächsten Tag die Mädchen, wobei anschließend von acht bis zehn dann das jeweils andere Geschlecht im brackigen Wasser Brustschwimmen oder Schmetterling übt. Von zehn bis zwölf steht Schulschwimmen auf dem Programm. Von zwölf bis drei ist das Schwimmbad geschlossen. Dann kommen die beliebtesten Zeiten: von drei bis halb fünf, von halb fünf bis sechs und von sechs bis halb acht. Und immer wechseln die Geschlechter einander ab. Von halb acht bis neun ist es dann meist recht ruhig.
    Das Schwimmbad verfügt über sechzig Kabinen. Gibt es mehr als sechzig Schwimmer, müssen sich die Übriggebliebenen hinten auf dem dreieckigen Rasen umziehen. Weil jeder eine Kabine haben möchte, drängeln sich bereits eine halbe Stunde vor dem Geschlechterwechsel Dutzende Jungen oder Mädchen vor dem Eingang. Sobald die Tür sich öffnet, stürmt die Menge hinein. Bademeister Jacobs wird rücksichtslos über den Haufen gerannt, und innerhalb von einer Minute sind alle Kabinen besetzt. Gute Freunde oder Freundinnen gehen zusammen in eine Kabine. Selbst Senioren sagen von einem Bekannten nicht: »Das ist mein Freund«, sondern: »Ich durfte früher zu ihm in die Kabine.«
    In den Kabinen betrachten Elfjährige die Geschlechtsorgane des anderen und entdecken so die erstaunliche Formenvielfalt von Kinderpimmeln. Es gibt gerade nach vorn zeigende schmale Stöckchen, kommaförmige Anhängsel, Schrumpelpimmel, die sich in der Falte zwischen den Hoden verstecken – alles scheint möglich zu sein. In den sechzig Kabinen werden Freundschaften fürs Leben geschlossen. Mancher ist so glücklich über seine Kabine, dass er anderthalb Stunden darin hocken bleibt.
    Am Tag des Herrn ist das Schwimmbad geschlossen. Schon seit Jahren bemüht sich der sozialdemokratische Ratsherr Smit darum, dass Schwimmbad auch sonntags zu öffnen. Regelmäßig veröffentlicht er in der Lokalzeitung De Schakel ein Umfrageformular. Jedes Mal, wenn die Zeitung ein solches Formular abdruckt, steigen dreitausend Reformierte die Deichtreppen hinauf, werfen ihr Formular mit NEIN in den Briefkasten des Ratsherrn, und das Schwimmbad bleibt am Sonntag weiter geschlossen.
    Schräg vor dem Schwimmbad liegen auf acht unterschiedlichen Höhen die acht Anlegestellen der Fähre. Ob Ebbe oder Flut, die Fähre kann immer anlegen. Soweit man weiß, besteht hier seit 1365 die Möglichkeit, den Fluss zu überqueren, und das, obwohl 1365 weder von der Stadt noch von der gegenüberliegenden Insel etwas zu sehen war! Von einer Stadt konnte man selbst im Jahr 1498 noch kaum sprechen. Dennoch kamen in ebendiesem Jahr zehn Boote und vier Tjalken den Fluss herab, aus denen dreihundert Mann hier an Land gingen, um zu plündern.
    Das Hoofd wird durch den Hafen und die Bahnlinie abgegrenzt, die miteinander einen rechten Winkel bilden. Auf der anderen Seite des Hafens liegt das Schanshoofd, kein Viertel, sondern ein Reihenbau entlang des Wassers.
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